Der Apotheker: Roman (German Edition)
Als der Nachtwächter schließlich Mitternacht ausrief, wälzte ich mich zur Seite und stieß dabei Mary in die Rippen. Sie murmelte etwas und lutschte an ihrer Zunge wie an einem Bonbon. Mich ekelte vor diesem Geräusch. Ich stieß sie erneut, diesmal fester, sodass sie aufstöhnte.
»Mary!«, fauchte ich. »Mary, wach auf!«
»Wa…?«, murmelte sie und kauerte sich auf der Seite liegend zusammen.
Ich zog sie an den Haaren, worauf sie erschrocken aufheulte. Ich konnte das Weiße in ihren Augen sehen, als sie mich im Finstern anfunkelte, und das Schimmern ihrer unregelmäßigen Zähne.
»Hast du es schon einmal gesehen? Das Gesicht des Herrn?«
»Mhm.«
»Ja? Wie sieht es denn aus?«
»Rot. Feuer«, murmelte Mary und drehte mir den Rücken zu. »Schlafen.«
»Verbrannt?« Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich mir vorstellte, wie lebendiges Fleisch zu wächsernen Falten zusammenschmolz.
»Nicht brennen. Rot.« Die Worte kamen gedämpft, schlaftrunken genuschelt. »Mal. Feuermal.«
Ich drehte mich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit. Ein Feuermal. Sollte ein gewöhnliches rotes Mal auf seinem Gesicht das ganze schreckliche Geheimnis meines Herrn sein? Dass es so belanglos war, beruhigte mich und wühlte mich zugleich auf. Die Idiotin neben mir sank immer tiefer in den Schlaf und schnarchte aus voller Kehle. Dieses Geräusch reizte mich bis aufs Blut. War Idiotie ansteckend? Was war ich doch für eine Närrin, den Worten einer Schwachsinnigen zu glauben, die nicht einmal zwischen einem Furz und einem Trompetenstoß unterscheiden konnte. Ich strampelte die Decken von mir, trat ans Fenster und legte die Stirn an die kalte Scheibe. In der Ferne ragte die mächtige Kuppel in den Himmel. Ein metallisch schimmernder Mond blickte gleichgültig auf das dunkle Gewirr der Dächer herab, die sich vor ihm duckten und ihre Schornsteine flehentlich wie Arme hochreckten. In unserem Dorf hatte es einen Bauernjungen mit einem grellroten Mal auf der Stirn gegeben, das sich über die eine Gesichtshälfte zog. Die Haut war dicker als an den anderen Stellen, rau und mit kleinen gelben Pusteln übersät. Und auch das Ohr auf dieser Seite war scharlachrot, als ärgerte es sich, einer so hässlichen Verunstaltung ausgesetzt zu sein. Wir hänselten den Jungen und gaben ihm vielerlei Schimpfnamen, aber meine Mutter war stets freundlich zu ihm.
»Da ist nicht das Kind dran schuld«, hatte sie kopfschüttelnd geseufzt. »Seine Mutter, die war ihr ganzes Leben lang ein gieriges Ding. Ihr hat im Februar nach Erdbeeren gelüstet. Wusste bestimmt, dass so etwas den Jungen zeichnen wird.«
Eine umsichtige Mutter, meinte sie nachdrücklich, zügelt ihre Begierden oder, falls sie das nicht vermag, sorgt dafür, dass sie befriedigt werden. Andernfalls würden diese Begierden so mächtig, dass sie Gewalt über sie gewinnen und sich in das Fleisch ihres ungeborenen Kindes brennen. War so etwas auch meinem Herrn zugestoßen? An meinem ersten Tag in der Swan Street hatte mich die Herrin vor Verschwendungssucht gewarnt und mir strengstens verboten, Kerzen und Kohle zu benutzen, wenn es nicht unbedingt notwendig sei. Plötzlich hatte ich das Bild einer Frau vor Augen, hochschwanger und in ein Tuch gehüllt, mit Lippen, blau vor Kälte, die zitternd vor einem erloschenen Herd in der Küche kauerte, deren Fenster mit Eis überzogen war. Sie träumte von einem Feuer, dessen Flammen so hoch emporschossen, dass ihr schier die Wangen glühten und sich das Kind in ihrem Schoß vor Hitze wand. Ich zitterte und merkte auf einmal, dass ich kalte Füße und auf den Armen eine Gänsehaut hatte, aber ich blieb dennoch ans Fenster gelehnt stehen und starrte hinaus in die Dunkelheit. In den benachbarten Straßen und Häusern brannte trotz der späten Stunde immer noch Licht, doch mir war, als saugten unter dem endlosen Dächermeer Abertausende unersättlicher Mäuler alles in sich ein, was an Wärme und Licht übrig war, und atmeten im Gegenzug eine Finsternis aus, die schwärzer war als je eine Nacht, sodass mit jedem dieser tiefen giftigen Atemzüge eine weitere Lampe in einer Spirale rußigen Rauchs erstarb. Und sobald der erste Perlmuttschimmer der Morgendämmerung erschiene, würde auch dieser vom Himmel aufgesogen, noch bevor er das niedrigste der Dächer rosa färben könnte. Dann würde für immer Finsternis herrschen.
Die Eiseskälte war mir so in die Knochen gekrochen, dass mir die Zähne klapperten. Ich rieb mir die Arme
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