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Der Apotheker: Roman (German Edition)

Der Apotheker: Roman (German Edition)

Titel: Der Apotheker: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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not stay …
    Die Kinder in unserer Gasse sangen manchmal dieses Lied und warfen dabei Steine in den Matsch, so nah am Haus, dass ich zuweilen um unsere Fensterscheibe fürchtete. Jetzt aber kamen mir meine längst verstorbenen Vorfahren in den Sinn, die über Jahrhunderte hinweg geglaubt hatten, man könne einen zornigen Fluss nur dann besänftigen und die Brücke, die man gegen seinen Willen darübergesetzt hatte, nur dann sichern, wenn man ihm ein Kind zum Opfer darbot. Plötzlich hatte ich eine unangenehme Erinnerung an einen kleinen Mund, eine Fleischperle am oberen Lippenrand, und augenblicklich wurden meine Brustwarzen steif. Es war, als hätte ich einen Stoß gegen die Brust bekommen. Ein weiteres Jahr. Mir wurde übel. Ich umklammerte den Henkel meiner Eimer noch fester und wandte mich ab.
    Erst in dem Augenblick merkte ich, dass Mary verschwunden war. Hastig bahnte ich mir einen Weg durch die Menge, rief ihren Namen, versuchte, irgendwo ihr unverwechselbares Gesicht zu entdecken. Aber ich nahm nur ein buntes Durcheinander aus Kleidern, Perücken, Hüten und Bündeln wahr. Als ich mich auf die Zehenspitzen stellte und mich reckte, hielt mir ein Mann in einem schäbigen Rock einen Handzettel vor die Nase, der eng beschrieben und dessen holzschnittartige Abbildung auf der unteren Hälfte verwischt war.
    »Beim Haus zum Brunnen in der Shoe Lane, noch bis Samstag«, zischte er. »Da fallen dir die Augen aus dem Kopf, das kannste mir glauben. So was wie den Igeljungen haste noch nie gesehn. Mit Stacheln, hart wie Horn.«
    »Haben Sie ein Mädchen hier vorbeikommen sehen, eine Idiotin, braunes Mieder …?«
    »Nur Sixpence«, fügte er ermunternd hinzu. »Woanders kostet so was ’nen Shilling.«
    Er wedelte mir mit dem Zettel vor dem Gesicht herum. Ich erhaschte einen Blick auf das Bild eines Jungen, der über und über mit Stacheln bedeckt war, bevor der Mann den Zettel in meinen Eimer steckte.
    »Jetzt reicht’s aber!«, fuhr ich ihn an und schlug ihm mit dem Eimer gegen sein Schienbein.
    Er jaulte auf wie ein Hund, als ich mich davonmachte. Die Menge war jetzt noch dichter geworden und noch träger, da viele Leute stehen blieben, um nach etwas Ausschau zu halten oder miteinander zu plaudern. Ihre Trägheit versetzte mich in Wut. Meine Eimer verfingen sich zwischen Beinen und Handkarren. Ich konnte kaum noch die Arme bewegen.
    Und da sah ich sie. Sie stand in einer Menschentraube vor einer niedrigen Bühne, die mit Fahnen und bunten Tüchern geschmückt war und auf der ein Äffchen und ein Gaukler Späße vorführten. Während der Gaukler den üblichen Hanswurst gab, der in seinem schweren Kostüm mit den Eselsohren stark schwitzte und mit der angestrengten Konzentration eines Kindes auf seiner Fiedel herumsägte, stolzierte das Äffchen im roten Samtumhang und mit Hut, den eine kunstvolle Feder schmückte, umher, eine lange Tonpfeife in der kleinen Hand. Der Ulk bestand darin, dass jedes Mal, wenn es der Gaukler schaffte, dem Instrument so etwas wie eine Melodie zu entlocken, das Äffchen hochsprang, sich auf die Geige setzte und sich wie ein Gentleman in einem Kaffeehaus auf den Steg zurücklehnte. Es steckte sich die Pfeife ins Maul und paffte mit größter Zufriedenheit dicke Rauchwolken in die Luft. Mary war ganz verzückt von diesem Spektakel und hielt sich die Hand wie einen Deckel vor den Mund. Ich kämpfte mich zu ihr durch.
    »Was fällt dir ein, einfach zu verschwinden?«, herrschte ich sie an. »Willst du etwa entführt werden?«
    Mary nickte glückselig, völlig vertieft in das Geschehen auf der Bühne. Ein Speichelfaden rann ihr aus dem Mund. Ich blickte sie böse an. Auf ihre entrückte Weise würde sie immer frei sein.
    »Affe!«, rief sie und zupfte mich am Ärmel. »Siehst du, Lize? Affe!«
    Gerade sprang das Tier dem Gaukler auf den Kopf und schnappte sich dessen Fiedelbogen, um ihn damit auf seine Eselsohren zu schlagen. Daraufhin versuchte der Gaukler, das Äffchen mit seiner Geige zu verdreschen, aber es war zu schnell für ihn, sodass er sich selbst einen harten Schlag auf die Stirn versetzte. Mary traten vor Verzückung fast die Augen aus dem Kopf, während die Menge ausgelassen johlte.
    »Mary!«, rief ich zornig und zog sie am Ärmel, aber sie nickte nur ungeduldig und reckte sich noch weiter vor zur Bühne, wo sich der Gaukler fieberhaft um die eigene Achse drehte, die Arme über dem Kopf, um dem Hagel der Schläge durch das Äffchen zu entgehen. Doch es half ihm nichts. Das

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