Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Etappengefängnisse, direkt ins Lagerland GULAG. Die Sturzflut, zu der dieser Strom (dieser Ozean!) in Tagesschnelle angeschwollen war, konnte auch durch die Repressions-und Gerichtsorgane eines so riesenhaften Staates nicht mehr bewältigt werden. Die ganze russische Geschichte hat nichts auch nur annähernd Vergleichbares anzubieten. Es war eine erzwungene Völkerwanderung, eine ethnische Katastrophe.
Dieser Strom unterschied sich von den vorangegangenen auch noch dadurch, daß man sich hier erst gar nicht den Kopf darüber zerbrach, was nach der Verhaftung des Familienoberhauptes mit der hinterbliebenen Familie zu geschehen habe. Hier hat man umgekehrt von vornherein nur nestweise ausgehoben, nur Familien en bloc, wobei sorgsam darauf geachtet wurde, daß kein Kind, ob vierzehn, zehn oder sechs Jahre alt, verlorenging: Jedes fein säuberlich zusammengeharkte Häuflein hatte an denselben Bestimmungsort zu kommen, zur selben gemeinsamen Vernichtung. (Es war das erste Experiment dieser Art, zumindest in der neueren Geschichte. Später wird es Hitler mit den Juden wiederholen, dann wiederum Stalin mit den treulosen oder verdächtigen Nationen.)
Alle Vorstellungen von «Menschlichkeit» schienen verloren, alle in Jahrtausenden erworbenen menschlichen Begriffe zunichte – wie im Blutrausch wurden die besten Ackersleute mitsamt ihren Familien zusammengetrieben und ohne jede Habe, blank wie sie waren, in die nördliche Einöde, in die Tundra und Taiga geworfen. Doch auch aus dem kollektivierten Dorf hörten die Ströme nicht zu fließen auf:
der Strom der Schädlinge. Allerorts wurden Agronomen als Landwirtschaftsschädlinge entlarvt …
der Strom der Ährenabschneider. Nächtens im Feld die Ähren schneiden und aufklauben! – eine gänzlich neue Art von ländlicher Beschäftigung und eine neue Methode der Ernteeinbringung! Es war kein geringer Strom, viele Zehntausende, meist nicht einmal erwachsene Bauern, sondern Burschen und Mädchen und Kinder, die in der Finsternis hinausgeschickt wurden, die Ähren zu schneiden, weil die Eltern nicht hoffen konnten, vom Kolchos für ihr Tagwerk etwas hereinzubekommen. Diese bittere und kaum gewinnbringende Beschäftigung (unter der Leibeigenschaft war solche Not den Muschiks unbekannt!) bestraften die Gerichte mit vollem Maß: zehn Jahre; böswilligster Raub von sozialistischem Eigentum.
Es klingt paradox: Die ganze Energie für ihre langjährige Tätigkeit schöpften die alles durchdringenden und unermüdlich wachen Organe aus einem EINZIGEN Paragraphen von den insgesamt einhundertachtundvierzig, die der nicht-allgemeine Teil des Strafgesetzbuches von 1926 aufzählt. Doch es könnten zu seinem Lob mehr Epitheta gefunden werden, als seinerzeit Turgenjew für die russische Sprache oder Nekrassow für Mütterchen Rußland zusammenzutragen vermochten: der große, mächtige, üppige, weitverzweigte, vielfältige, alles sauberfegende Paragraph 58, welcher diese unsere Welt nicht einmal so sehr durch seine Formulierungen als vielmehr durch seine dialektische und großzügigste Auslegung voll auszuloten imstande war.
Wer von uns hat seine weltumspannende Umarmung nicht zu kosten bekommen? Es gibt unter der Sonne wahrlich kein Vergehen, keine Absicht, keine Tat und keine Tatlosigkeit, die nicht vom gestrengen Arm des § 58 erreicht und gestraft werden konnte …
Doch kein anderer Punkt wurde in einem solchen Maß und mit einem derartigen Einsatz von revolutionärem Gewissen breitgetreten wie Punkt 10. Er lautete: «Propaganda oder Agitation, welche einen Appell zum Sturz, zur Untergrabung oder zur Schwächung der Sowjetmacht enthält … beziehungsweise Verbreitung, Herstellung oder Aufbewahrung von Literatur gleichen Inhalts.» Und er legte in Friedenszeiten nur das Mindestmaß der Strafe fest (nicht weniger! nicht milder!), während das Limit nach oben hin unbeschränkt blieb!
Und so ist’s gewesen; hier ein Schnappschuß aus jener Zeit. Eine Bezirksparteikonferenz (im Moskauer Gebiet) … Den Vorsitz führt der neue Bezirkssekretär anstelle des sitzenden früheren. Am Ende wird ein Schreiben an Stalin angenommen, Treuebekenntnis und so. Selbstredend steht alles (wie auch jedesmal sonst der Saal aufspringt, wenn sein Name fällt). Im kleinen Saal braust «stürmischer, in Ovationen übergehender Applaus» auf. Drei Minuten, vier Minuten, fünf Minuten – noch immer ist er stürmisch und geht noch immer in Ovationen über. Doch die Hände schmerzen bereits. Doch die erhobenen
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