Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Arme erlahmen. Die Älteren schnappen nach Luft. Und es wird das Ganze unerträglich dumm selbst für Leute, die Stalin aufrichtig verehren. Aber: Wer wagt es als erster? Aufhören könnte der Erste Bezirkssekretär. Doch er ist ein Neuling, er steht hier anstelle des Sitzenden, er hat selber Angst! Denn im Saal stehen und klatschen auch NKWD-Leute, die passen schon auf, wer als erster aufgibt! … Im kleinen, unbedeutenden Saal wird geklatscht … und Väterchen kann’s gar nicht hören … 6 Minuten! 7 Minuten! 8 Minuten! … Sie sind verloren! Zugrunde gerichtet! Sie können nicht mehr aufhören, bis das Herz zerspringt! Hinten, in der Tiefe des Saales, im Gedränge, kann einer noch schwindeln, einmal aussetzen, weniger Kraft, weniger Rage hineinlegen – aber nicht im Präsidium, nicht vor aller Augen! Der Direktor der Papierfabrik, ein starker und unabhängiger Mann, steht im Präsidium, begreift die Verlogenheit, die Ausweglosigkeit der Situation – und applaudiert – 9 Minuten! 10! Er wirft sehnsüchtige Blicke auf den Sekretär, doch der wagt es nicht. Verrückt! Total verrückt! Sie schielen mit schwacher Hoffnung einer zum andern, unentwegt Begeisterung auf den Gesichtern, sie klatschen und werden klatschen, bis sie hinfallen, bis man sie auf Tragbahren hinausbringt! Und auch dann werden die Zurückgebliebenen nicht aufgeben! … Und so setzt der Direktor in der elften Minute eine geschäftige Miene auf und läßt sich in seinen Sessel im Präsidium fallen. Und – o Wunder! – wo ist der allgemeine, ungestüme und unbeschreibliche Enthusiasmus geblieben? Wie ein Mann hören sie mitten in der Bewegung auf und plumpsen ebenfalls nieder. Sie sind gerettet! Der Bann ist gebrochen! …
Allein, an solchen Taten werden unabhängige Leute erkannt. Erkannt und festgenagelt: In selbiger Nacht wird der Direktor verhaftet. Mit Leichtigkeit werden ihm aus ganz anderem Anlaß zehn Jahre verpaßt. Doch nach Unterzeichnung des abschließenden Untersuchungsprotokolls vergißt der Untersuchungsrichter nicht die Mahnung:
«Und hören Sie in Zukunft nie als erster mit dem Klatschen auf!»
(Wie aber denn? Wie sollen wir sonst aufhören?)
Sehen Sie: Das ist die Darwinsche Auslese. Unter Anwendung der Zermürbungsmethode Dummheit.
Heute aber wird ein neuer Mythos geschaffen. Jede gedruckte Erzählung, jede geduckte Erwähnung des Jahres 1937 ist unbedingt ein Bericht über die Tragödie der hochgestellten Kommunisten. Wir selber lassen uns unwillkürlich davon überzeugen, daß das Gefängnisjahr 1937/38 in der Aushebung eben nur der prominenten Kommunisten sich erschöpfte. Doch von den Millionen der damals Eingesperrten konnten die bekannten Partei-und Staatsfunktionäre, wenn’s viel ist, höchstens zehn Prozent ausmachen. Selbst in den Schlangen, die vor den Leningrader Gefängnissen mit Paketen für die Eingelieferten standen, waren einfache Frauen vom Rang einer Putzfrau in der Mehrzahl.
Das wahre Einsperrgesetz jener Jahre aber läßt sich an der vorgegebenen Ziffer definieren, am Erfassungsplan und Erfassungsnetz. Jede Stadt, jeder Bezirk, jede Armee-Einheit erhielt eine Sollzahl zugewiesen, welche fristgerecht zu erfüllen war. Alles übrige hing von der Fertigkeit der Einsatzkommandos ab.
Der ehemalige Tschekist Alexander Kalganow erinnert sich, in Taschkent ein Telegramm erhalten zu haben: «Schickt zweihundert!» Im Augenblick aber waren sie gerade mit einer Partie fertig, und es gab scheinbar niemanden mehr zum «Nehmen». Gut, sie brachten fünfzig Mann Nachschub aus den Bezirken herbei. Da, ein Einfall! Die von der Miliz festgenommenen Bytowiki in Achtundfünfziger aufzuwerten! Gesagt, getan. Doch die Sollziffer ist immer noch nicht ganz erreicht! Eine Anfrage von der Miliz: Was tun? Zigeuner haben mitten in der Stadt ungeniert ihre Zelte aufgeschlagen. Das ist’s! Der Tabor wird umzingelt und alle Männer von siebzehn bis sechzig nach § 58 eingezogen! Planerfüllung zu vermelden!
Nirgends wird nachdrücklich erklärt, es müßten möglichst viele Intellektuelle eingesperrt werden, doch, so wie in den früheren Strömen, werden sie auch jetzt nicht übersehen. Es genügt eine studentische Denunziation (diese Wortverbindung klingt längst nicht mehr seltsam), daß der Lektor mehr Lenin und Marx und niemals Stalin zitiert – und der Lektor kommt nicht zur nächsten Vorlesung. Wenn er aber gar nicht zitiert ?
Die Verhaftungen breiteten sich wie Seuchen über Straßenzüge und Häuserblocks aus. So
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