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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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nationalem Geist bewahrt, wie es in anderen Ländern der Fall ist. Nur das gemeine Soldaten-, Bauern-und Kosakenvolk hat ausgeholt und zugeschlagen. Nur das gemeine Volk hat aufgemuckt. Was der ehemalige, emigrierte Adel oder die ehemalige Besitzerschicht oder die Intelligenz dazu leisteten, war völlig unbedeutend. Tschechow klagte, daß es bei uns keine «juristische Definition gebe, was die Katorga sei und wozu sie diene».
    Nun, das war noch im aufgeklärten 19. Jahrhundert! In der Mitte des höhlenfinsteren 20. Jahrhunderts fragte erst gar niemand danach. Väterchen hatte beschlossen – und das war genug Definition.
    Und wir nickten zustimmend mit dem Kopf.

2
Der Wind der Revolution
Dieses Kapitel behandelt vor allem die russisch-ukrainischen Beziehungen sowie den immer stärker werdenden Geist des Widerstandes («die vage Hoffnung auf Meuterei, die in uns allen gewachsen war») unter den Gefangenen.

3
Ach, Ketten, meine Ketten …
    Unsere erhitzten, erwartungsvollen Gemüter wurden rasch abgekühlt. Der Wind der Veränderungen wehte nur in den Durchgangslagern. Hier, hinter den hohen Bretterzäunen der Sonderlager, war nichts davon zu spüren. Keine aufrührerischen Flugblätter klebten an den Lichtmasten, obwohl die Lager ausschließlich aus Politischen bestanden.
    Es heißt, daß sich im Min-Lag die Schmiedearbeiter weigerten, Gitter für die Barackenfenster anzufertigen. Ruhm euch Unbekannten!
    Die Ära der Sonderlager begann mit derselben wortlosen, sogar beflissenen Unterwürfigkeit, zu der die Menschen durch dreißig Jahre ITL erzogen worden waren.
    Die Häftlinge, die aus den Polargebieten hierher verlegt wurden, sollten sich nicht lange der Sonne Kasachstans freuen. Der Boden, den sie auf der Station Noworodnoje betraten, war so rot wie die Waggons, aus denen sie sprangen. Das war jenes Kupfer von Dscheskasgan, das keine Bergarbeiterlunge länger als vier Monate aushielt. Hier demonstrierten die Aufseher an den ersten Straffälligen auch gleich ihre neue Waffe: Handschellen (in den ITL gab es keine) – glänzende, vernickelte Handschellen, die in der Sowjetunion zum dreißigsten Jahrestag der Oktoberrevolution in Serienproduktion gegeben worden waren. Diese Handschellen waren dadurch bemerkenswert, daß man sie besonders eng einstellen konnte. Dazu hatten sie einen besonderen Verschluß mit einem gezähnten Metallplättchen, sie wurden dem Häftling angelegt und dann auf den Knien eines Konvoisoldaten zusammengedrückt, so daß das Metallplättchen möglichst tief einrastete. Auf diese Weise wuden aus einer Sicherheitsvorrichtung, die die Bewegungsfreiheit beschränkt, ein Folterinstrument: Die Eisenringe schnitten in die Handwurzeln ein, quetschten sie und verursachten einen ständigen, heftigen Schmerz, und das mußte stundenlang, noch dazu mit auf den Rücken gebogenen Händen, ertragen werden. Die Handschellen konnten auch so angelegt werden, daß die vier Finger zusammengepreßt wurden, was heftige Schmerzen in den Fingergelenken bewirkte.
    Im Ber-Lag hatte man geradezu eine Leidenschaft für Handschellen. Für das geringste Vergehen, wie z. B. Nichtabnehmen der Mütze vor dem Aufseher, wurden sie verordnet. Der Delinquent bekam die Handschellen angelegt (Hände auf dem Rücken) und mußte bei der Lagerwache stehen. Die Hände wurden starr und leblos, erwachsene Männer begannen zu betteln: «Bürger Natschalnik, nehmen sie die Handschellen ab! Ich werde es nicht mehr tun!»
    Es war nicht schwer, auf einem Stück Papier hinzuknallen: «Die Genossen Soundso werden mit der Schaffung von Sonderlagern beauftragt. Entwurf auf Lagerordnung ist bis zum Soundsovielten vorzulegen!» Aber irgendwelche Gefängniskenner (und auch Seelenkenner und Kenner des Lagerlebens) mußten sich doch konkret anstrengen und Punkt für Punkt überlegen: Wo könnte man die Schrauben noch schmerzlicher anziehen? Womit könnte man den Häftling noch erdrückender bedrücken? Wie könnte man sein ohnedies nicht privilegiengepolstertes Leben noch schwerer machen? Wenn dieses Vieh aus den ITL in die Sonderlager getrieben wurde, mußte es sofort Druck und Strenge spüren – aber das mußte sich doch zuerst jemand Punkt für Punkt ausdenken!
    Ferner wurde völlig ungeniert die wertvolle Nazieinrichtung der Nummern übernommen: Der Name des Häftlings, das «Ich» des Häftlings, seine Persönlichkeit wurden durch eine Nummer ersetzt, so daß sich der eine vom anderen nicht mehr durch seine menschliche Eigenart, sondern

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