Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Kontaktstellen organisieren und mit den Revolutionären, die zurückbleiben, eine Beratung abhalten. Man erlaubt ihm, auf eigene Kosten in die Verbannung zu fahren, das heißt, er fährt unter freien Passagieren. Lenin erlebt keinen Transport und kein Durchgangsgefängnis, weder auf dem Weg in die Verbannung noch auf dem Rückweg. In Krasnojarsk muß er noch zwei Monate in der Bibliothek arbeiten, um Die Entwicklung des Kapitalismus zu beenden, und dieses Buch, von einem Verbannten geschrieben, erscheint ohne jede Behinderung durch die Zensur. (Na, vergleichen Sie mal mit unseren Verhältnissen!) Aber wovon wird er in dem entlegenen Dorf leben, denn Arbeit wird er dort keine finden! Sehr einfach, er beantragt staatlichen Unterhalt, und man zahlt ihm über die Bedürfnisse. Lenin hat in seiner (einzigen) Verbannung Lebensbedingungen, wie man sie sich nicht besser vorstellen kann. Er hat gesunde Nahrung, reichlich Fleisch (jede Woche einen Hammel), Milch und Gemüse, alles noch dazu spottbillig, er kann unbeschränkt jagen (ist allerdings mit seinem Hund nicht zufrieden – worauf man sich bereit erklärt, ihm einen anderen aus Petersburg zu schicken, außerdem stechen die Mücken im Wald – Lenin läßt sich Glacéhandschuhe kommen), er kuriert sein Magenleiden und sonstige Jugendkrankheiten aus, setzt rasch Fett an. Er hat keinen Dienst, keine Verpflichtungen, auch die beiden Frauen strengen sich nicht besonders an: Ein fünfzehnjähriges Bauernmädchen macht für zweieinhalb Rubel im Monat die ganze mindere Arbeit. Lenin hat es nicht nötig, für Geld zu schreiben, er lehnt eine bezahlte journalistische Arbeit ab, die ihm aus Petersburg angeboten wird, er schreibt und veröffentlicht nur, was ihm schriftstellerischen Ruhm bringen kann.
Seine Verbannung ist abgelaufen (er hätte ohne Schwierigkeiten «fliehen» können, tat es aber wohlweislich nicht). Wird sie automatisch verlängert? Wird sie verewigt ? Warum, das wäre doch ungesetzlich! Man bewilligt ihm Pskow als Wohnsitz, verboten sind ihm nur Reisen in die Hauptstadt. Aber er fährt nach Riga, er fährt nach Smolensk. Er stellt fest, daß er nicht beschattet wird. Daraufhin schmuggelt er mit seinem Freund (Martow) einen Korb illegaler Literatur in die Hauptstadt – und fährt dabei mitten durch Zarskoje Selo, wo die Kontrollen besonders scharf sind (Lenin und Martow haben sie überlistet). In Petersburg wird er gefaßt. Er hat zwar keinen Korb mehr bei sich, dafür einen mit Geheimtinte geschriebenen Brief an Plechanow, der den vollständigen Gründungsplan der Iskra enthält – doch damit geben sich die Gendarmen nicht ab; drei Wochen lang, während der Verhaftete sitzt, haben sie den Brief in den Händen und entwickeln ihn nicht.
Und wie endet für Lenin dieser eigenmächtige Ausflug aus Pskow? Mit zwanzig Jahren Katorga, wie bei uns? Nein, mit diesen drei Wochen Arrest! Und danach gibt man ihm überhaupt freie Bahn, man läßt ihn durch Rußland reisen, wo er die Iskra -Stützpunkte vorbereitet, und später sogar ins Ausland, wo er die Herausgabe der Zeitschrift organisiert (der Ausstellung eines Auslandspasses «steht nichts entgegen»)!
Aber es kommt noch schöner! Aus der Emigration sendet er einen Marx-Artikel an den Verlag der Enzyklopädie Granat – und der Artikel wird in Rußland gedruckt. Es bleibt nicht der einzige!
Schließlich begibt er sich in einen kleinen österreichischen Ort in der Nähe der russischen Grenze und betreibt von dort aus Wühlarbeit – und man läßt ihn gewähren. Keine wackeren Geheimagenten werden ausgesandt, um ihn zu entführen und lebendig nach Rußland zu bringen. Es wäre eine Kleinigkeit gewesen.
Das ist vielleicht das auffallendste an den Verfolgungen (Nicht-Verfolgungen) in der zaristischen Zeit, daß die Angehörigen der Revolutionäre in keiner Weise zu Schaden kamen. Jedes Mitglied der Familie Uljanow (fast alle von ihnen haben zu verschiedenen Zeiten gesessen) erhält jederzeit anstandslos die Genehmigung für eine Auslandsreise. Lenin wird wegen Aufförderung zum bewaffneten Aufstand «als Verbrecher gesucht» – seine Schwester Anna überweist ihm regelmäßig und völlig legal Geld auf sein Pariser Konto.
In dieser Situation kam Tolstoi zur Überzeugung, daß nicht politische Freiheit notwendig sei, sondern einzig und allein moralische Vervollkommnung.
Natürlich braucht politische Freiheit nicht, wer sie schon hat. Auch wir sind der Ansicht: Letzten Endes geht es nicht um die politische
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