Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
verhaften lassen? Das ist doch unmöglich?! … Hat er Tausende hinrichten lassen? Ganze fünf Mann wurden hingerichtet. Und nicht einmal dreihundert wurden in dieser Zeit verurteilt. (Wenn ein solches Attentat auf Stalin verübt worden wäre, wieviel Millionen Menschenleben hätte uns das gekostet?)
Der Bolschewik Olminski berichtet, daß er 1891 im ganzen Kresty-Gefängnis der einzige Politische war. Als er nach Moskau überstellt wurde, war er in der Taganka wiederum der einzige. Erst in der Butyrka vor dem Abtransport gesellten sich noch einige dazu!
Mit jedem Jahr fortschreitender Aufklärung und freier Literatur wuchs die unsichtbare, jedoch regimebedrohende Macht der öffentlichen Meinung, die Zaren rutschten immer mehr aus dem Sattel, verloren die Zügel aus den Händen, und Nikolaus II. blieb überhaupt nur der Schwanz, um sich dran zu halten.
Nikolaus und seine Mächtigen hatten aber auch nicht mehr die Entschlossenheit, um ihre Herrschaft zu kämpfen. Sie unterdrückten nicht mehr brutal, sie zwickten nur mehr leicht und ließen wieder ab. Ständig blickten sie um sich und horchten – was wird die öffentliche Meinung sagen? Sie verfolgten die Revolutionäre gerade so viel, um sie in den Zellen miteinander bekanntzumachen, ihre Widerstandskraft zu stärken und eine Aureole um sie zu schaffen. Heute, da wir einen echten Maßstab haben, können wir ohne weiteres behaupten, daß die zaristische Regierung die Revolutionäre nicht verfolgt, sondern sorgsam gehegt hat, sich selbst zum Verderben. Die Unentschlossenheit, Halbherzigkeit und Schwäche der zaristischen Regierung sind für jeden offenkundig, der die perfekte Justizmaschinerie aus eigener Erfahrung kennt.
Sehen wir uns die allgemein bekannte Biographie Lenins an. Im Frühjahr 1887 wurde sein Bruder wegen eines Attentats auf Alexander III. hingerichtet. Lenin war also, wie der Bruder Karakosows, der Bruder eines Zarenmörders. Und? Im Herbst desselben Jahres läßt sich Lenin an der Kaiserlichen Universität Kasan immatrikulieren, noch dazu an der Juristischen Fakultät! Ist das nicht eigenartig?
Allerdings wird Lenin im selben Studienjahr aus der Universität ausgeschlossen. Ausgeschlossen wird er jedoch – wegen Organisierung eines regierungsfeindlichen Studententreffens. Der jüngere Bruder des Zarenmörders hetzt also die Studenten zur Unbotmäßigkeit auf? Was hätte er dafür bei uns bekommen? Kein Zweifel – Tod durch Erschießen! (Und die anderen fünfundzwanzig oder zehn Jahre!) Doch er wird von der Universität verwiesen. Wie brutal! Und noch dazu verbannt … nach Sachalin? Nein, auf das Familiengut Kokuschkino, wo er ohnedies seine Sommer verbringt. Er möchte arbeiten – man gibt ihm Gelegenheit … in der Taiga Holz zu fällen? Nein, in Samara sein Rechtspraktikum zu absolvieren und sich dabei an illegalen Zirkeln zu beteiligen. Und danach – als Externist die Prüfungen an der Petersburger Universität abzulegen. (Ja, was ist denn mit den Fragebogen? Wo hat denn die Sonderabteilung ihre Augen?)
Einige Jahre später wird derselbe junge Revolutionär verhaftet, weil er in der Hauptstadt einen «Kampfbund zur Befreiung» (nicht weniger!) gegründet, vor Arbeitern wiederholt «aufrührerische» Reden gehalten und Flugblätter verfaßt hat. Wurde er gefoltert, ließ man ihn hungern? Nein, die Untersuchungsbehörde gab ihm die Möglichkeit zu geistiger Arbeit. Lenin verfaßte im Petersburger Untersuchungsgefängnis, wo er ein Jahr lang, mit den nötigen Büchern versorgt, saß, sein Buch Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, zumindest den größten Teil davon. Außerdem schrieb er die Ökonomischen Studien und schickte sie legal – über die Staatsanwaltschaft! – an die Redaktion der marxistischen Zeitschrift Nowoje Slowo. Im Gefängnis konnte er sich Diätkost bestellen, bekam Milch, Mineralwasser aus der Apotheke, und dreimal in der Woche ein Paket von Zuhause. (Auf die gleiche Weise schrieb Trotzki in der Peter-Paul-Festung den ersten Entwurf seiner Theorie der permanenten Revolution.)
Jetzt bekommt er aber seinen Genickschuß von der Troika ! Nein, er bekommt nicht einmal Gefängnis, er wird verbannt. Nach Jakutien, lebenslang? Nein, in die fruchtbaren Gefilde von Minussinsk, für drei Jahre. Wird er in Handschellen transportiert, im Gefangenenwaggon? O nein! Er reist wie ein Freier, hält sich noch einige Tage ungehindert in Petersburg und Moskau auf, denn er muß ja seine konspirativen Anweisungen hinterlassen,
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