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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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lediglich durch plus oder minus eins in einer monotonen Zahlenreihe unterschied. Auch diese Einrichtung kann bedrückend werden, wenn man sie ganz konsequent durchführt. Das versuchte man auch. Jeder Neuankömmling bekam, nachdem der in der Sonderabteilung des Lagers «Klavier gespielt» hatte (das heißt, seine Fingerabdrücke hinterlassen hatte, wie es im Gefängnis, nicht jedoch in den ITL praktiziert wurde), eine kleine Tafel umgehängt, auf der seine Nummer stand. Und in dieser Aufmachung wurde er vom Fotografen der Sonderabteilung fotografiert. (Alle diese Fotografien werden noch irgendwo aufbewahrt! Wir werden sie noch zu sehen bekommen!)
    Die Aufseher hatten Befehl, die Häftlinge nur mit Nummern zu rufen und ihre Namen zu ignorieren.
    Ebenso hatten in den Brigadelisten die Nummern vor den Namen zu stehen – nicht statt der Namen? Das traute man sich doch nicht – ganz auf die Namen verzichten! Der Name ist nun einmal ein sicherer Schopf, bei dem man den Menschen jederzeit packen kann, die Nummer dagegen ist ein Hauch, einmal hingeblasen – und weg ist sie. Freilich, wenn man die Nummern dem Menschen selbst einbrennen oder einstechen würde! Doch dazu ist es nicht mehr gekommen. Wäre es aber, spielend, es fehlte nicht viel.
    All das geschah im Jahre 1949 (neunzehnhundertneunundvierzig) – zwei-unddreißig Jahre nach der Oktoberrevolution, vier Jahre, nachdem der Krieg und seine rauhen Gesetze zu Ende gegangen waren, drei Jahre, nachdem die Nürnberger Urteile gesprochen worden waren, nachdem die Menschheit von den Greueln der faschistischen Lager erfahren und erleichtert aufgeatmet hatte: «Das wird sich nicht wiederholen!»

    Wenn man sich all das vor Augen hält, so wird vielleicht verständlich, daß der Nummernzwang gar nicht die fühlbarste und verletzendste Methode der Demütigung war.
    Wer die Nummern wirklich als teuflischste aller Lagereinrichtungen empfand, das waren gewisse strenggläubige Sektenanhängerinnen.
    Und diese Frauen weigerten sich, Nummern zu tragen – Satanszeichen! Sie weigerten sich auch, die Unterschrift zu geben (dem Satan!), die zur Ausgabe der Anstaltskleidung erforderlich ist. Die Lagerobrigkeit bewies ebenso große Festigkeit und ließ die Frauen bis auf die Unterhemden ausziehen und ihnen die Schuhe abnehmen, um mit Hilfe des Winters diese verrückten Fanatikerinnen zu zwingen, Anstaltskleider anzuziehen und Nummern aufzunähen. Doch die Frauen waren eher bereit, bei klirrender Kälte barfuß und im Unterhemd zu gehen, als ihre Seele dem Satan zu überlassen!
    Vor diesem Geist (versteht sich – reaktionärem Geist, wir als aufgeklärte Menschen würden uns nicht so gegen Nummern sträuben!) kapitulierte die Lagerleitung, die Sektiererinnen erhielten ihre Kleider zurück und trugen sie ohne Nummern!

4
Warum haben wir uns nicht gewehrt?
    Nach der gängigen liberalen Auffassung (von der sozialistischen nicht zu reden) ist die ganze russische Geschichte eine Abfolge von Tyranneien. Zuerst die Tyrannei der Tataren. Dann die Tyrannei der Moskauer Fürsten. Fünf Jahrhunderte einheimische Despotie nach östlichem Muster und tiefverwurzeltes, aufrichtiges Knechttum. (Als ob es keine Ständeversammlungen, keine Dorfgemeinschaft, kein freies Kosakentum, kein nordrussisches Bauerntum gegeben hätte.) Ob Iwan der Schreckliche, Alexej der Sanfte, Peter der Harte oder Katharina die Samtene – bis zum Krimkrieg kannten alle Zaren nur eines: knechten.
    Halt! Halt! … wurden niedergeschlagen, aber mit Konzessionen! Wurden niedergeschlagen, aber nicht in unserem technischen Sinn. Nach dem Krieg gegen Napoleon (genauer gesagt, nach der Rückkehr der Zarenarmee aus Europa) regte sich in der russischen Gesellschaft das erste zarte Lüftchen. Es genügte, um dem Zaren Schranken aufzuerlegen. Die Soldaten, zum Beispiel, die auf der Seite der Dekabristen standen, ist einer von ihnen an den Galgen gekommen? oder erschossen worden? Bei uns wäre nicht ein einziger am Leben geblieben! Weder Puschkin noch Lermontow konnten einfach zu einem Zehner verurteilt werden, man mußte indirekte Methoden finden.
    Sieben Attentate wurden auf Zar Alexander II. selbst verübt. Und? Hat er halb Petersburg deportieren lassen, wie es nach dem Kirow-Mord geschah? Keine Spur, so etwas konnte man sich überhaupt nicht vorstellen. Hat er prophylaktischen Massenterror angeordnet, totalen Terror wie im Jahre 1918? Hat er Geiseln nehmen lassen? So was kannte man überhaupt nicht. Hat er zweifelhafte Personen

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