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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Freiheit! Nicht leere Freiheit ist das Ziel menschlicher Entwicklung. Nicht einmal eine wohlgelungene politische Ordnung der Gesellschaft! Natürlich geht es um die sittlichen Grundlagen der Gesellschaft! Letzten Endes, nun gut – und um was geht es am Anfang, in der ersten Phase? Tolstois Gut Jasnaja Poljana war damals ein offener Geistesklub. Hätte man es abgeriegelt und überwacht wie die Leningrader Wohnung der Achmatowa, wo von jedem Besucher der Paß verlangt wurde, hätte man Tolstoi und seine Gäste terrorisiert, wie man uns alle unter Stalin terrorisierte, als es gefährlich war, zu dritt unter einem Dach zusammenzukommen – dann hätte auch Tolstoi nach politischer Freiheit gerufen.
    Die russische öffentliche Meinung zu Beginn des Jahrhunderts war eine Wunderkraft, sie bildete die Luft der Freiheit. Der Zarismus brach zusammen nicht als Koltschak gejagt wurde, nicht als in Petrograd der Februarsturm tobte – viel früher! Der Sturz des Zarismus war bereits endgültig, als sich in der russischen Literatur der Grundsatz durchsetzte, daß der geringste sympathische Zug in der Schilderung eines Gendarmen oder Polizisten – erzreaktionäre Speichelleckerei sei! Als nicht nur Bekanntschaft oder Grußwechsel mit ihnen, sondern schon eine flüchtige Berührung auf dem Gehsteig als Schande betrachtet wurde.
    Während bei uns die Henker, nachdem sie arbeitslos geworden, die Literatur und Kultur regieren (manche sind auch von vornherein dazu bestellt). Und sie lassen sich als legendäre Helden besingen. Und man nennt das aus irgendeinem Grund – Patriotismus!
    Wir haben uns in den Lagern deshalb nicht gewehrt, weil es draußen keine öffentliche Meinung gab.
    In welchen Formen ist denn Auflehnung gegen das Regime, dem der Häftling unterworfen ist, überhaupt denkbar? Doch nur in folgenden:
    1. Protest
    2. Hungerstreik
    3. Flucht
    4. Meuterei
    Es wird, wie sich der Selige auszudrücken pflegte, jedermann klar sein (und ist es einem nicht klar, dann kann man’s ihm beibringen), daß die ersten zwei Formen nur dann Wirkung haben (und von den Kerkermeistern gefürchtet werden), wenn es eine öffentliche Meinung gibt! Ohne sie ernten wir mit unseren Protesten und Hungerstreiks nur Gelächter!
    Es ist sehr effektvoll, sich vor der Gefängnisobrigkeit das Hemd auf dem Leib zu zerreißen, wie es Dserschinski tat und damit die Erfüllung seiner Forderungen erreichte. Aber nur, wenn es eine öffentliche Meinung gibt. Gibt es keine, haut man dir die Fresse ein und läßt dich überdies für das staatseigene Hemd zahlen!
    Erinnern wir uns nur an den berühmten Fall, der sich Ende des vorigen Jahrhunderts in der Kara-Katorga ereignete. Den Politischen wurde bekanntgegeben, daß sie in Zukunft Körperstrafen unterliegen. Nadeschda Segeda (sie hatte dem Kommandanten eine Ohrfeige gegeben, um ihn zur Niederlegung seines Postens zu zwingen!) soll als erste ausgepeitscht werden. Sie nimmt Gift und stirbt. Nach ihr nehmen drei weitere Frauen Gift – und sterben! In der Männerbaracke erklären sich vierzehn freiwillig zum Selbstmord bereit, doch er gelingt nicht allen. Schließlich wurden die Körperstrafen ausnahmslos und für alle Zeit abgeschafft! Die Absicht der Politischen war, der Gefängnisleitung Angst zu machen. Denn die Nachricht von der Tragödie an der Kara würde Rußland und die ganze Welt erreichen.
    So tief sind wir gesunken. So weit haben wir uns von einstigen Höhen arrestantischer Gesinnung entfernt.
    Doch wie sehr haben sich dafür unsere Lagermeister gesteigert! Das sind nicht mehr die Schlappschwänze von der Kara-Katorga! Selbst wenn wir uns jetzt besännen und aufrafften – vier Frauen und vierzehn Männer –, wir wären allesamt erschossen, bevor wir noch an Gift gekommen sind. Und selbst wenn es jemandem gelänge, sich zu vergiften – er würde der Gefängnisobrigkeit damit nur die Arbeit erleichtern. Und die anderen bekämen erst recht die Rute verpaßt, wegen Nichtdenunzierung. Ja, und natürlich würde die Kunde von dem Vorfall nicht einmal über die Zone hinausdringen.
    Darum geht es ja, das ist ja ihre Stärke: Die Kunde würde über das Lager nicht hinausdringen! Und selbst wenn, dann nicht weit, als verirrtes Gerücht bloß, von den Zeitungen nicht bestätigt, von Spitzeln bald erschnuppert, und das heißt soviel wie keine Kunde. Öffentliche Empörung – dazu würde es nicht kommen! Was sollten die Lagerherren also fürchten? Warum sollten sie unseren Protesten Gehör schenken? Wenn ihr

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