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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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steinigen Boden –, begannen die entscheidenden Jahre meines Lebens, die meinen Charakter endgültig formten. Mein Leben kennt jetzt sozusagen keine Schwankungen mehr nach oben oder unten, ich halte an den Anschauungen und Gewohnheiten fest, die sich dort ausgebildet haben.
    Einen freien, ungetrübten Kopf brauchte ich, weil ich bereits zwei Jahre an einem Poem schrieb. Es hat mich reich belohnt, indem es mir half zu vergessen, was mit meinem Körper geschah. Mitunter, wenn unsere Kolonne lustlos zur Arbeit trottete, begleitet von den barschen Rufen der MP-Schützen, spürte ich einen solchen Ansturm von Zeilen und Bildern, daß mir schien, als würde ich über der Kolonne durch die Luft getragen, hin zum Objekt, um möglichst rasch, in irgendeiner Ecke alles niederzuschreiben. In diesen Minuten war ich frei und glücklich.
    Bei uns gab es nur ein Versteck, um Geschriebenes aufzubewahren und durch alle Kontrollen und Transporte zu schmuggeln – das Gedächtnis ! Anfangs glaubte ich nicht recht an die Möglichkeiten des Gedächtnisses und schrieb daher in Versen. Das hieß natürlich, dem Stoff Gewalt antun. Später entdeckte ich, daß sich auch Prosa ganz gut in den geheimen Tiefen unseres Gehirns speichern läßt. Befreit von der Last eitlen, unnützen Wissens entwickelt das Gedächtnis des Häftlings eine erstaunliche Fassungskraft, die sich ständig vergrößern kann. Wir glauben zu wenig an unser Gedächtnis!
    In den Gefängnissen war das Abfassen und Ausfeilen von Versen überhaupt nur im Kopf möglich. Zu diesem Zweck brach ich Zündhölzer in kleine Stücke, legte diese in zwei Reihen auf eine Zigarettendose – zehn Einer und zehn Zehner – und schob, während ich im Geist die Verse hersagte, bei jeder Zeile ein Hölzchen zur Seite. Jedesmal, wenn ich zehn Einer verschoben hatte, rückte ich auch einen Zehner. Jede fünfzigste und hundertste Zeile prägte ich mir besonders ein – als Kontrollzeilen. Einmal im Monat wiederholte ich alles «Geschriebene». Wenn dabei die fünfzigste oder hundertste Zeile nicht stimmte, wiederholte ich so lange von vorn, bis ich der entwischten Zeile habhaft wurde.
    Im Kuibyschewer Durchgangsgefängnis sah ich, wie die katholischen Litauer sich selbst Rosenkränze anfertigten. Sie formten Kügelchen aus aufgeweichter und durchgekneteter Brotmasse, bemalten sie (schwarz – mit verkohltem Gummi, weiß – mit Zahnpulver, rot – mit rotem Streptozid), fädelten sie in feuchtem Zustand auf einer eingeseiften Schnur (aus zusammengedrehten Fäden) auf und ließen sie auf dem Fensterbrett trocknen. Ich gesellte mich zu ihnen und sagte, daß ich ebenfalls Rosenkranz beten wolle, daß ich jedoch als Anhänger eines besonderen Glaubens hundert Kugeln benötige (später stellte sich heraus, daß zwanzig genügt hätten und praktischer gewesen wären), dabei müßte statt jeder zehnten ein Würfel eingeschoben und die fünfzigste und hundertste zusätzlich gekennzeichnet sein. Die Litauer verwunderten sich ob meines religiösen Eifers (die Frömmsten unter ihnen hatten nicht mehr als vierzig Perlen auf ihren Rosenkränzen), waren aber in ihrer teilnahmsvollen Herzlichkeit bereit, mir zu einem solchen Rosenkranz zu verhelfen. Statt der hundert Kugeln verfertigten sie mir ein dunkelrotes Herz. Von diesem wunderbaren Geschenk habe ich mich später nie getrennt. Im weitläufigen Ärmel meiner Wattejacke habe ich seine Kugeln abgezählt und abgetastet – beim Morgenappell, auf dem Marsch, immer wenn es warten hieß, man konnte das im Stehen machen, und die Kälte störte nicht. Ich habe es durch die Kontrollen geschmuggelt, ebenfalls im Watteärmel, wo man es nicht durchfühlte. Einige Male fanden es die Aufseher, begriffen aber, daß es zum Beten diente, und gaben es zurück. Bis zum Ende meiner Haft (als ich schon auf zwölftausend Zeilen gekommen war) und noch später in der Verbannung half mit diese Perlenkette dichten und Gedichtetes bewahren.
    Mir war bewußt, daß ich nicht der einzige dieser Art war, daß ich an einem großen Geheimnis teilhabe. Dieses Geheimnis reift verborgen in zahlreichen, ebenso einsamen Menschen auf den verstreuten Inseln des Archipels, um einmal in künftigen Jahren, vielleicht erst nach unserem Tod, offenbar zu werden und sich zur künftigen russischen Literatur zu entfalten.
    Wie viele solche waren wir damals? Ich glaube, viel mehr, als in diesen wechselvollen Jahren bekannt wurden. Denn nicht allen war es beschieden zu überleben. Manche haben vielleicht

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