Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
euch vergiften wollt, bitte, dann vergiftet euch!
    Und Flucht? Es sind uns Berichte über eine Reihe ernst zu nehmender Ausbrüche aus zaristischen Gefängnissen überliefert. Alle diese Ausbrüche wurden, wohlgemerkt, von draußen geleitet und organisiert, das heißt, von anderen Revolutionären, Parteifreunden der Häftlinge und mit Unterstützung zahlreicher Sympathisanten. Sowohl am Ausbruch selbst als auch an der Verbergung und Weiterschleusung der Geflüchteten war eine Vielzahl von Personen beteiligt. («Aha!» mein marxistischer Historiker hat mich erwischt, «warum? Weil die Revolutionäre die Bevölkerung und die Zukunft auf ihrer Seite hatten!» – «Aber vielleicht», widerspreche ich schüchtern, «auch deshalb, weil das ein lustiges, straffreies Spiel war? Mit dem Taschentuch aus dem Fenster winken, den Ausbrecher bei sich übernachten lassen, ihm das Gesicht schminken? Dafür wurde niemand vor Gericht gestellt. Als Pjotr Lawrow aus der Verbannung floh, stellte der Gouverneur von Wologda, Chominski, seiner Lebensgefährtin eine Reisegenehmigung aus, damit sie ihrem Geliebten nachfahren kann … Sogar für Paßbeschaffung drohte, wie wir gesehen haben, nicht mehr als Verbannung auf das Heimatgut. Die Menschen hatten keine Angst – wissen Sie aus eigener Erfahrung, was das heißt?»)
    Mir ist derzeit kein Material darüber zugänglich, wie die wichtigsten zaristischen Katorga-Stätten gesichert wurden, aber ich habe nie gehört, daß es dort ähnliche verzweifelte Fluchtversuche mit Chancen eins zu hunderttausend gegeben hat, wie sie in unserer Katorga vorkamen. Offensichtlich hatten es die zaristischen Katorga-Häftlinge nicht nötig, etwas zu riskieren: Ihnen drohte weder vorzeitiger Tod durch Erschöpfung noch unbegründete Fristverlängerung; den zweiten Teil ihrer Haft verbüßten sie in der Verbannung, und die Flucht schoben sie bis dahin auf.
    Aus der zaristischen Verbannung flohen, scheint es, nur die nicht, die zu faul dazu waren.
    Fluchtunternehmen waren Taten von Giganten, allerdings von Giganten, die zum Untergang verurteilt waren. So viel Mut, Findigkeit und Willenskraft wurde auf Fluchtversuche vor der Revolution nie verwendet – und doch gelangen sie leicht, während sie in unserer Zeit fast nie gelangen.
    Sie gelangen deshalb nicht, weil der Erfolg eines Fluchtunternehmens im späteren Stadium von der Einstellung der Bevölkerung abhängt. Und unsere Bevölkerung hatte Angst, Flüchtenden zu helfen oder verriet sie sogar, sei es aus Eigennutz, sei es aus Überzeugung.
    «Also – die öffentliche Meinung!»
    Und was regelrechte Häftlingsrevolten betrifft, mit drei-, fünf-und achttausend Beteiligten, so kannte sie die Geschichte unserer drei Revolutionen überhaupt nicht.
    Wir haben sie erlebt.
    Doch derselbe magische Bann um uns bewirkte, daß die größten Anstrengungen und Opfer die geringsten Resultate brachten.
    Denn die Gesellschaft war nicht reif. Denn ohne öffentliche Meinung hat eine Revolte, selbst in einem riesigen Lager, keine Entwicklungsmöglichkeit.

    Wir können also auf die Frage: «Warum habt ihr euch nicht gewehrt?» antworten: Wir haben uns gewehrt! Lesen Sie weiter, und Sie werden erfahren, daß wir uns sehr wohl gewehrt haben.
    In den Sonderlagern haben wir das Banner der Politischen aufgerichtet und sind selbst zu Politischen geworden!

5
Verscharrte Dichtung, vergrabene Wahrheit
    Am Beginn meines Lagerlebens wollte ich unbedingt den Allgemeinen entkommen, wußte aber nicht, wie. Als ich im sechsten Haftjahr nach Ekibastus kam, beschloß ich, umgekehrt, meinen Kopf von vornherein freizuhalten von den verschiedenen Lagerspekulationen und -kombinationen, die ihn an ernsterer Beschäftigung hinderten. Ich begann daher erst gar nicht, mein Leben provisorisch als Hilfsarbeiter zu fristen, wie es die Gebildeten unwillkürlich tun, in Erwartung eines Glücksfalles, der sie den Pridurki zuführt, sondern wollte hier, in der Katorga, einen manuellen Beruf erlernen. In der Brigade Boronjuks bot sich uns (mir und Oleg Iwanow) ein solcher Beruf an – Maurer. Durch eine Schicksalswendung kam ich auch noch unter die Gießer.
    Zunächst war ich unsicher, hatte Zweifel: Ist das richtig, was ich mache? Werde ich es durchhalten? Denn wir anfälligen Kopfwesen tun uns noch schwerer als unsere Brigadekumpel, auch bei gleichen Arbeitsbedingungen. Doch gerade an jenem Tag, als ich bewußt den Boden suchte und ihn wieder fest unter meinen Füßen spürte – den gemeinsamen, harten,

Weitere Kostenlose Bücher