Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
ihr Werk in einer Flasche verschlossen und eingegraben, ohne jemandem die Stelle zu nennen. Manche haben es fremden Händen anvertraut, aber entweder zu sorglosen oder, umgekehrt, zu vorsichtigen. Manche sind nicht einmal dazugekommen, etwas niederzuschreiben.
Nicht einmal auf der kleinen Insel Ekibastus schien es möglich, einander zu erkennen, zu ermutigen, zu unterstützen! Denn wie scheue Wölfe verbargen wir uns vor allen anderen, also auch vor unseresgleichen. Und dennoch begegnete ich in Ekibastus einigen von ihnen.
Ganz unerwartet lernte ich durch Baptisten den geistlichen Dichter Anatolij Wassiljewitsch Silin kennen. Er war damals etwas über vierzig Jahre alt. Sein Gesicht war in keiner Weise auffallend. Die abrasierten Kopf-und Barthaare wuchsen überall rotblond nach, auch die Augenbrauen waren rötlich. Er war gegenüber allen sanftmütig und nachgiebig, aber zurückhaltend. Erst als wir tiefer ins Gespräch kamen, als wir an arbeitsfreien Sonntagen stundenlange Spaziergänge durch die Zone machten, als er mir seine langen geistlichen Dichtungen vortrug (er verfaßte sie, wie ich, dort im Lager) – da stellte ich wieder einmal mit Verwunderung fest, wie täuschend gewöhnlich die Hülle sein kann, in der sich eine ungewöhnliche Seele verbirgt.
Er war als Besprisornyj, als Waisenhauszögling und Atheist, aufgewachsen, bis er in der deutschen Gefangenschaft auf religiöse Bücher stieß und von ihnen in Bann gezogen wurde. In der Folge wurde er nicht nur gläubig, er wurde auch Philosoph und Theologe! Da er «in der Folge» aber auch ständig im Gefängnis oder im Lager saß, so mußte er diesen ganzen theologischen Weg allein gehen, dabei schon Entdecktes für sich noch einmal entdecken, vielleicht nicht ohne Irrungen – denn «in der Folge» hatte er weder Bücher noch Berater. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er als einfacher Erdarbeiter, er mühte sich, die unerfüllbare Norm zu erfüllen, kehrte mit einknickenden Knien und zitternden Händen von der Arbeit zurück – doch in seinem Kopf kreisten Tag und Nacht die Jamben seiner Poeme, vierfüßige, locker gereimte Jamben, die er alle, vom ersten bis zum letzten, im Kopf verfaßte. Ich glaube, daß er damals bereits an die zwanzigtausend Zeilen auswendig kannte. Auch für ihn war die Versform nur Hilfsmittel, um die Gedanken festzuhalten und anderen mitzuteilen.
Was die Weltauffassung Silins so sehr bereicherte und mit Wärme erfüllte, war sein Erlebnis der Natur, die er als Palast empfand. Es kam vor, daß er sich über einen spärlichen Grashalm beugte, der vorschriftswidrig dem unfruchtbaren Zonenboden entsprossen war, und ausrief:
«Wie herrlich ist das irdische Gras! Und doch hat es Gott den Menschen als Fußmatte gegeben. Und wie viel herrlicher müssen also wir sein!»
«Aber warum heißt es: ‹Liebt nicht die Welt und was in ihr ist?›» (Von den Sektenanhängern war das oft zu hören.)
Er lächelte, als wollte er sich entschuldigen. Mit diesem Lächeln verstand er es, Gegensätze zu versöhnen:
«Sogar in der fleischlichen irdischen Liebe manifestiert sich unser höheres Streben nach Vereinigung!»
Die Theodizee, die Rechtfertigung des Bösen in der Welt, formulierte er folgendermaßen:
«Es duldet der Vollkommne Geist
Das Leid der Unvollkommenheit,
Da ohne Leid die Seelen nie
Den Wert der Seligkeit erkennen.
…
Ein hartes Recht, doch nur dank ihm
wird uns, den kleinen Sterblichen,
Die große ewige Welt erschlossen.»
Kühn erklärte er die Leiden Christi nicht nur mit der Notwendigkeit, die Sünden der Menschen zu tilgen, sondern auch mit dem Wunsch Gottes, die irdischen Leiden zu durchleben. Silin behauptete:
«Von diesen Leiden hat Gott immer gewußt, doch er hat sie vorher nie erlebt !»
Aber auch über den Antichrist, der
«In des Menschen freier Seele
Den Drang zum Lichte fehlgeleitet
Und auf das Erdenlicht beschränkt»,
fand Silin frische, menschliche Worte:
«Der große Engel hat die Seligkeit,
Die ihm gegeben ward, verworfen,
Da er nicht litt, wie Menschen leiden.
Denn selbst die Liebe eines Engels
Bleibt unvollkommen ohne Schmerz.»
Da Silin freimütig dachte, fand sich in seinem weiten Herzen Platz für alle Schattierungen des Christentums:
«… darin besteht ihr Wesen,
Daß jeder Geist auch Christi Lehre
Nach seiner Eigenart begreift.»
Für die entrüstete Frage der Materialisten, wie denn der Geist die Materie hervorbringen konnte, hatte Silin nur ein Lächeln:
«Sie wollen nicht
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