Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
drückte ihm die Hand: «Seien Sie unbesorgt!» Im Zug waren sie zu viert – Tenno und drei Mann Sonderkonvoi, sie fuhren in einem separaten Liegewagenabteil. Das gleichmäßige Klopfen der Räder wirkte angenehm. Es steht uns frei, diesem Geräusch einen beliebigen Sinn zu geben, es mit beliebigen Ahnungen zu erfüllen. Für Tenno bedeutete es Hoffnung: «Es wird sich alles aufklären.» Und daher hatte er nicht ernsthaft vor zu fliehen. Er überlegte nur, wie er es am besten anstellen würde. (Später, wenn er an diese Nacht dachte – und er sollte noch oft an sie denken, konnte er nur vor Ärger stöhnen. Niemals war es so leicht gewesen zu fliehen, niemals war die Freiheit so nahe gewesen!)
Der Sonderkonvoi-Luxus endete in Moskau auf dem Bahnhof. Nach Aufnahmeprozedur, Schlaflosigkeit, Boxen und wieder Boxen. Naive Forderung, sofort dem Untersuchungsrichter vorgeführt zu werden. Worauf der Aufseher gähnend antwortete: «Wirst ihn schon sehen, mehr als dir lieb ist.»
Und dann der Untersuchungsrichter. «Also, erzähl von deiner verbrecherischen Tätigkeit.» – «Ich bin völlig unschuldig!» – «Nur Papst Pius ist völlig unschuldig.»
Der Zellengenosse ein Spitzel. Schmiert sich richtig an: Was war wirklich los? Einige Verhöre und Tenno begreift: Hier hat er weder Klärung noch Freilassung zu erwarten. Also – fliehen!
Tenno läßt sich vom Weltruhm des Lefortowo-Gefängnisses nicht beeindrucken. Vielleicht ist das so wie mit dem Frontneuling, der noch nichts erlebt hat und daher nichts fürchtet? Auf dem Fluchtplan bringt ihn der Untersuchungsrichter selbst – Anatolij Lewschin. Dadurch, daß er gehässig und bösartig wird.
Sowohl Menschen als auch Völker haben verschiedene Maßstäbe. Wie viele Millionen mußten sich in diesen Mauern schlagen lassen, und haben es nicht einmal Folter genannt. Doch für Tenno ist allein schon das Bewußtsein, daß man ihn ungestraft schlagen kann, unerträglich. Das ist eine Entwürdigung, der er den Tod vorzieht. Und als Lewschin nach verbalen Drohungen das erste Mal auf Tenno zukommt und zum Schlag ausholt, springt Tenno auf und stößt, vor Wut zitternd, hervor: «Paß auf, mit mir ist es ohnedies aus! Wenn du mich anrührst, reiß ich dir ein Auge aus oder beide! Dazu bin ich imstande!»
Der Untersuchtungsrichter zieht sich zurück. Sein gutes Auge gegen ein verlorenes Häftlingsleben einzutauschen reizt ihn nicht. Dafür setzt er Tenno mit Karzerhaft zu, um ihn zu schwächen. Dann inszeniert er Schmerzensschreie einer Frau im Nebenzimmer, macht Tenno glauben, daß es seine Frau ist, und droht: Wenn er nicht gesteht, wird sie noch mehr gequält.
Und wieder irrte er sich im Gegner! Zu wissen, daß seine Frau verhört wird, war für Tenno ebenso unerträglich, wie selbst geschlagen zu werden. Es wurde dem Häftling immer klarer, daß er diesen Untersuchungsrichter töten mußte. Dieser Entschluß traf sich mit dem Fluchtplan! Major Lewschin trug ebenfalls Marineuniform, war ebenfalls hochgewachsen und blond. Ein Torwächter des Untersuchungstraktes hätte Tenno ohne weiteres für Lewschin halten können. Allerdings hatte dieser ein volles, glattes Gesicht, Tennos hingegen wurde immer schmäler.
Inzwischen hat man den unnützen Spitzel aus der Zelle entfernt. Tenno untersucht das leere Bett. Eine metallene Querstange ist an der Verbindungsstelle mit dem Bettfuß durchgerostet, die Vernietung hält schlecht. Die Stange ist ungefähr sechzig Zentimeter lang. Wie sie herausbrechen?
Zuerst gilt es, gleichmäßiges Sekundenzählen üben. Dann – bei jedem Aufseher die Intervalle zwischen zwei Kontrollblicken durch das Guckloch ermitteln.
In einem der Intervalle – ein kräftiger Druck, und die Stange bricht am durchgerosteten Ende knackend ab. Das andere Ende ist unbeschädigt, hier ist es schwieriger. Man muß mit beiden Füßen draufsteigen – aber dann knallt die Stange gegen den Zementboden. Innerhalb einer Intervalle muß ihm also folgendes gelingen: ein Kissen unterlegen, auf die Stange steigen, Stange durchbrechen, Polster zurück und Stange verstecken – vorläufig im eigenen Bett. Und dabei ständig Sekunden zählen.
Es gelingt. Die Stange ist los!
Aber das ist noch keine Lösung. Wenn sie kommen und die Stange finden, lassen sie dich im Karzer zugrunde gehen. Zwanzig Tage Karzer rauben die Kraft nicht nur zur Flucht, sondern auch zum Widerstand gegen den Untersuchungsrichter. Folgendes könnte man machen: Die Matratze mit dem Fingernagel
Weitere Kostenlose Bücher