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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Fingerabdrücke überprüfen und den Mann abschreiben kann.
    Ein überzeugter Ausbrecher – das ist der, dem letzten Endes die vergitterten Fenster gelten, die vielen Stacheldrähte um die Zone, die Wachttürme, Zäune und Bretterwände, die versteckten Posten, die Hinterhalte, und die grauen Hunde, die mit blutigem Fleisch gefüttert werden.
    Ein überzeugter Ausbrecher – das ist schließlich der, der die verunsichernden Vorwürfe der Lagerspießer zurückweist («Wegen euch Ausbrechern müssen die anderen büßen! Verschärftes Regime! Jeden Tag zehnmal Kontrolle! Wäßrige Suppe!»). Der taub ist gegen alles Gerede von Sichdreinfinden («Auch im Lager kann man leben, besonders, wenn man Pakete bekommt!»), ja, sogar gegen Protest-und Hungerstreik-Geraune, denn das ist nicht Kampf, sondern Selbstbetrug. Von allen Formen des Kampfes kennt er nur eine, glaubt er nur an eine, dient er nur einer – der Flucht!
    Er kann einfach nicht anders! Er ist so geschaffen. Der Zwang zur Flucht ist ihm angeboren, wie dem Zugvogel der Trieb zur jahreszeitlichen Wanderung.
    In den Pausen zwischen zwei mißlungenen Ausbrüchen wurde Georgij Tenno oft von friedlichen Lagerbewohnern gefragt: «Warum hältst du’s nicht aus? Warum haust du ständig ab? Was kann dir die Welt draußen schon bieten, vor allem die heutige?» – «Wie – was?» wunderte sich Tenno. «Die Freiheit! Vierundzwanzig Stunden ohne Fesseln in der Taiga sein – das ist Freiheit!»
    So war Tenno: Jedesmal, wenn er in ein neues Lager kam (und Lager erlebte er viele), war er zuerst bedrückt und niedergeschlagen – so lange, bis ein Fluchtplan in ihm reifte. Wenn der Plan da war, hellte sich alles in ihm auf und auf den Lippen erschien ein triumphierendes Lächeln.

    Seine komplizierte Lebensgeschichte hat in diesem Buch nicht Platz. Die Lust am Ausreißen war ihm jedenfalls angeboren. Als er klein war, lief er aus dem Brjansker Internat davon – «nach Amerika», das heißt, er fuhr mit einem Boot die Desna hinunter. In Pjatigorsk hielt er es im Waisenheim nicht aus, kletterte im Winter, nur mit Unterhose und Leibchen bekleidet, über das eiserne Eingangstor und ging zur Großmutter. Dann kam es zu einer eigenartigen Verflechtung von zwei Elementen in seinem Leben: Seefahrt und Zirkus. Er besuchte die Seefahrtsschule und ging zur See, zuerst als Matrose auf einem Eisbrecher, dann als Bootsmann auf einem Trawler, schließlich als Steuermann in der Handelsflotte. Er absolvierte das Fremdspracheninstitut der Armee, diente während des Krieges in der Nordmeerflotte und fuhr als Verbindungsoffizier auf englischen Geleitschiffen nach Island und England. Doch derselbe Tenno befaßte sich seit seiner Kindheit mit Akrobatik, trat in der NEP-Zeit und später zwischen den Seefahrten im Zirkus auf; trainierte mit Gewichthebern; produzierte sich als «Mnemotechniker», als «Gedächtniskünstler» und «Gedankenleser auf Entfernung». Der Zirkus und das Hafenleben brachten ihn ein wenig mit der Kriminellenwelt in Berührung: Etwas von ihrer Sprache, ihrem Desperadogeist, ihrer Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit ist an ihm haftengeblieben. Später, als er in zahlreichen Reschimkas mit Unterweltlern zusammen war, lernte er immer wieder etwas von ihnen. Auch das konnte ein überzeugter Ausbrecher gut gebrauchen.
    Wir sind das Ergebnis der Erfahrungen, die sich in uns anreichern.
    1948 wurde er plötzlich demobilisiert. Das war bereits ein Signal aus der MWD-Welt (kann Sprachen, war auf einem englischen Schiff, ist noch dazu Este, wenn auch aus Petersburg) – aber wir hoffen doch immer auf Besseres. Am Heiligen Abend desselben Jahres wurde er in Riga, wo Weihnachten noch so spürbar und festlich ist, verhaftet und in einen Keller in der Amatusstraße neben dem Konservatorium gebracht. Als er seine erste Zelle betrat, konnte er sich nicht zurückhalten und erklärte dem gleichgültigen, stumm-finsteren Aufseher: «Jetzt läuft gerade Der Graf von Monte Christo, für den meine Frau und ich Karten hatten. Der Graf hat für die Freiheit gekämpft, ich werde auch kämpfen.»
    Aber zum Kämpfen war es noch zu früh. Ist doch zunächst mal jeder in der Vorstellung befangen, daß es sich um einen Irrtum handelt. Gefängnis? – wofür? – das kann nicht sein! Es wird sich alles aufklären! Vor der Überstellung nach Moskau beruhigte man ihn absichtlich (das geschieht aus Sicherheitsgründen), der Leiter der Spionageabwehr, Oberst Morschtschinin, kam sogar auf den Bahnhof und

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