Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
darüber nachdenken, wie die grobe Materie den Geist hervorbringen konnte! In dieser Reihenfolge wäre das doch ein Wunder ! Sogar ein viel größeres Wunder!»
Mein Gehirn war übervoll von eigenen Versen, es gelang mir nur, diese winzigen Bruchstücke von dem Gehörten zu bewahren. Dabei war zu befürchten, daß Silin selbst nichts von seinen Dichtungen würde retten können. Ausgezehrt und zum Sklaven erniedrigt, die Schandnummer auf den Kleidern, hatte dieser Dichter den Lebenden mehr zu sagen als die ganze Herde von Schreiberlingen, die sich in Redaktionen, Verlagen und Rundfunk etabliert haben und niemandem nütze sind als sich selbst.
Silin aß mit den Baptisten aus einem Kessel, teilte mit ihnen Brot und warme Kost. Natürlich brauchte er dankbare Zuhörer, Menschen, mit denen er gemeinsam das Evangelium lesen und deuten konnte, mit denen er sich in der Aufbewahrung des Buches abwechselte. Orthodoxe kannte er nicht, sei es, daß er sie nicht suchte (in der Annahme, daß sie ihn wegen seiner Häresien ablehnen würden), sei es, daß er sie nicht fand: Außer den Westukrainern gab es nur wenige Orthodoxe in unserem Lager, und sie unterschieden sich in ihrem Verhalten nicht von den andern. Die Baptisten behandelten Silin mit Achtung, hörten ihm aufmerksam zu, zählten ihn sogar zu ihrer Gemeinde, aber auch ihnen gefiel das Häretische an ihm nicht, sie hofften, ihn allmählich ganz für sich zu gewinnen. Silin war gehemmt, wenn er in ihrer Gegenwart mit mir sprach; er ging aus sich heraus, wenn wir allein waren. Es fiel ihm schwer, sich in den Rahmen ihres Glaubens zu zwängen, obwohl es ein starker, reiner und inbrünstiger Glaube war, der ihnen half, aufrecht und seelisch unversehrt die Katorga zu ertragen. Sie sind allesamt rechtschaffen, sanftmütig, arbeitsam, hilfsbereit und Christus treu ergeben.
Eben deshalb werden sie so rigoros ausgemerzt. In den Jahren 1948–50 wurden viele Hunderte nur deshalb, weil sie einer Baptistengemeinde angehörten, zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt und in Sonderlager verschickt (eine Gemeinde ist, versteht sich, eine Organisation !)
Im Lager ist es anders als draußen. Draußen ist jeder bestrebt, seine Persönlichkeit durch sein Äußeres zu unterstreichen und auszudrücken. Man kann leichter das Wesen eines Menschen erkennen. In der Haft hingegen sind alle entpersönlicht – durch den gleichen Kahlschnitt, die gleichen Bartstoppeln, die gleichen Mützen und die gleichen Lagerjacken. Der geistige Ausdruck ist durch Wind, Sonnenglut, Schmutz und harte Arbeit entstellt. Um durch die entwürdigte, entpersönlichte Hülle das Licht der Seele wahrzunehmen, braucht man gewisse Übung.
Doch diese Lichtchen des Geistes wandern, einem unbekannten Drang folgend, und stoßen zueinander. In einem unbewußten Prozeß erkennen und sammeln sich Gleichartige.
6
Ein überzeugter Ausbrecher
Wenn Georgij Pawlowitsch Tenno heute von Ausbrüchen aus dem Lager erzählt, die er selbst unternommen, die er miterlebt hat, die er vom Hörensagen kennt, so spricht er von den hartnäckigsten und unbeugsamsten Fluchtgehern – Iwan Worobjow, Michail Chaidarow, Grigorij Kudla, Chafis Chafisow – voll Anerkennung: «Das war ein überzeugter Ausbrecher!»
Ein überzeugter Ausbrecher – das ist der, der keinen Augenblick zweifelt, daß ein Mensch hinter Gittern nicht leben kann! Nicht einmal als der bestversorgte Pridurok, weder in der Buchhaltung noch in der KWTsch, noch in der Brotrationierung! Der als Häftling tagsüber nur an Flucht denkt und in der Nacht von Flucht träumt. Der Kompromißlosigkeit geschworen hat und alle Handlungen einem einzigen Ziel unterordnet – der Flucht! Der keinen Tag lang einfach so im Lager sitzt, der immer entweder eine Flucht plant oder auf der Flucht ist, oder eingefangen und halbtot geschlagen im Lagergefängnis büßt.
Ein überzeugter Ausbrecher – das ist der, der weiß, was er riskiert! Der die Leichen der erschossenen Ausbrecher gesehen hat, die auf dem Appellplatz zur Schau gestellt werden. Der die lebend eingefangenen gesehen hat, wenn sie, blau am ganzen Körper und Blut spuckend, durch die Baracken getrieben werden und auf Befehl rufen: «Häftlinge! Seht mich an! Dasselbe blüht euch!» Der weiß, daß die Leiche des Ausbrechers meist zu schwer ist, um ins Lager geschafft zu werden, daß man sich dann begnügt, im Rucksack seinen Kopf zu bringen oder (was genauer der Vorschrift entspricht) den rechten Unterarm, damit die Sonderabteilung die
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