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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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auftrennen, ein wenig Watte herausnehmen, die Stange an den Enden umwickeln und an der ursprünglichen Stelle einsetzen. Sekunden zählen! Erledigt!
    Aber auch das geht nur für kurze Zeit. Alle zehn Tage ist Banja, und während die Häftlinge dort sind, werden die Zellen durchsucht. Die Beschädigung könnte entdeckt werden. Es gilt also, möglichst rasch zu handeln. Wie soll er die Stange zum Verhör mitnehmen? Beim Verlassen des Gefängnistraktes wird er nicht durchsucht. Bei der Rückkehr vom Verhör wird er zwar abgeklopft, doch nur auf der Brust und auf der Seite, wo die Taschen sind. Sie suchen nach Klingen, haben Angst, daß jemand Selbstmord begeht.
    Tenno trägt unter dem Uniformrock das traditionelle Matrosenleibchen. Das wärmt Leib und Seele. «Weg vom Land – weg vom Kummer!» Er bittet den Aufseher um eine Nadel (zu gewissen Zeiten kann man eine bekommen), vorgeblich – um Knöpfe anzunähen, die er sich aus Brot gemacht hat. Knöpft den Rock und die Hose auf, zieht das Leibchen hoch und näht unten an der Innenseite eine Falte auf, so daß eine Art Täschchen entsteht (für das untere Ende der Stange). Schon vorher hat er ein Stück Unterhosenband abgerissen. Das näht er jetzt (es sieht aus, als würde er einen Rockknopf annähen) auf der Innenseite des Leibchens in Brusthöhe an, als Führungsschlaufe für die Metallstange.
    Jetzt wird das Leibchen verkehrt angezogen und mit dem Training begonnen. Tenno schiebt die Stange auf dem Rücken unter das Leibchen, so daß sie von Schlaufe und Täschchen gehalten wird. Das obere Ende befindet sich in Nackenhöhe, unter dem Rockkragen. Das Training besteht darin: zwischen zwei Kontrollblicken mit der Rechten blitzschnell zum Nacken greifen und das Stangenende fassen, sich etwas zurückbeugen und vorschnellen, wie eine Bogensehne, gleichzeitig die Stange herausziehen und gegen den Kopf des Untersuchungsrichters schmettern. Und wieder zurück in die Schlaufe! Kontrollblick des Aufsehers. Der Häftling blättert in einem Buch.
    Außerdem werden zwei Watteröllchen hergerichtet – sie stammen ebenfalls aus der Matratze. Wenn man sie zwischen Zähne und Backen schiebt, wirkt das Gesicht voller.
    Natürlich muß er an diesem Tag rasiert sein – doch rasiert, das heißt, mit stumpfen Klingen geschunden, werden sie nur einmal in der Woche. Also spielt auch der Tag eine Rolle.
    Und wie soll er seinem Gesicht natürliche Röte geben? Er wird die Wangen ein wenig mit Blut einreiben! Mit Lewschins Blut.
    Kein wichtiger Punkt darf vergessen oder übersehen werden, und alles muß in vier, fünf Minuten erledigt werden. Wenn Lewschin auf dem Boden liegt, niedergestreckt, muß Tenno noch:
    1. seinen Rock ausziehen und Lewschins Rock anziehen, der neuer ist und Schulterstücke hat;
    2. Lewschin die Schuhbänder abnehmen und seine rutschenden Schuhe zuschnüren – das wird viel Zeit kosten;
    3. die Rasierklinge an einer eigens vorbereiteten Stelle im Absatz verstecken (für den Fall, daß sie ihn erwischen und in die nächste Zelle werfen – um sich die Venen durchzuschneiden);
    4. alle Dokumente durchsehen und, was notwendig ist, an sich nehmen;
    5. sich die Wagennummer einprägen, den Autoschlüssel finden;
    6. die eigene Untersuchungsakte in Lewschins dicke Mappe stecken und mitnehmen;
    7. Lewschin die Uhr abnehmen;
    8. sich die Wangen mit Blut schminken;
    9. den Körper Lewschins hinter den Schreibtisch oder hinter den Fenstervorhang schleifen, damit Eintretende glauben, der Beamte sei weggegangen, und nicht dem Täter nachstürzen;
    10. die Watteröllchen unter die Wangen schieben;
    11. Lewschins Mantel anziehen, seine Mütze aufsetzen;
    12. das Kabel, das zum Lichtschalter führt, abreißen. Kommt jemand – ist es finster, dreht er den Schalter, glaubt er, daß die Birne durchgebrannt ist und der Untersuchungsrichter daher den Raum gewechselt hat. Selbst wenn sie eine Birne einschrauben, werden sie nicht sofort bemerken, was los ist.
    So sind zwölf Punkte zusammengekommen, und der dreizehnte ist die Flucht selbst …
    Natürlich sind die Chancen sehr gering, so weit man das absehen kann, fünf zu hundert oder noch weniger. Völlig ungewiß ist, ob er an der Torwache vorbeikommt, es scheint fast hoffnungslos. Doch hier als Sklave sterben! Nein!
    Und eines Nachts, gleich nach dem Rasieren, kam Tenno mit der Eisenstange auf dem Rücken zum Verhör. Der Untersuchungsrichter verhörte, fluchte, drohte, und Tenno schaute ihn verwundert an: Spürte der denn nicht, daß

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