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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Daumenschrauben, die sie ihm anstetzten, und an den Schmutz, den sie ihm abpreßten, doch den Untersuchungsrichter, den kennt er selten beim Namen, geschweige denn, daß er sich Gedanken über ihn gemacht hätte. So wüßte auch ich über jeden meiner Zellengenossen Interessanteres und mehr zu berichten als über den Hauptmann im Staatssicherheitsdienst Jesepow, dem vis-à-vis ich nicht wenige Stunden in seinem Zimmer abgesessen habe.
    Gemeinsame und sichere Erinnerung unser aller: ein fauliger Tümpel war’s, ein durch und durch von Fäulnis befallener Ort. Heute noch und ohne jede Aufwallung von Zorn und Mißmut bewahren wir in unseren durch die Jahrzehnte besänftigten Herzen diesen sicheren Eindruck: von niedrigen, boshaften, ehrlosen und – vielleicht – verirrten Menschen.
    Es ist bekannt, daß Alexander II., derselbe, dem die Revolutionäre mit vereinten Kräften siebenmal nach dem Leben trachteten, einst das Petersburger Untersuchungsgefängnis auf der Schpalernaja (den Onkel des Großen Hauses) besuchte und sich in der Einzelzelle Nr. 227 einsperren ließ; über eine Stunde saß er drinnen – weil er nachempfinden wollte, was die Leute fühlen, die er dort gefangenhielt.
    Wer will leugnen, daß es für einen Monarchen eine sittliche Regung war, das Bedürfnis und der Versuch, die Sache vom Geistigen her zu betrachten.
    Doch unvorstellbar ist’s, daß sich von unseren Untersuchungsrichtern bis hinauf zu Abakumow und Berija auch nur einer gefunden hätte, den die Lust überkommen, für eine kurze Stunde in die Sträflingshaut zu schlüpfen, darüber in der Einzelzelle zu grübeln.
    Sie sind von Dienst wegen nicht verpflichtet, ein Bedürfnis nach Bildung, Kultur und tieferen Einsichten zu haben – so bleiben sie denn ohne. Sie sind von Dienst wegen nicht verpflichtet, logisch zu denken – so lassen sie es denn auch sein. Was der Dienst von ihnen verlangt, ist einzig die präzise Erfüllung der Direktiven und die Gefühllosigkeit gegenüber den Leiden – und darin sind sie groß, das nimmt ihnen keiner. Wir, die wir durch ihre Hände gegangen sind, wir wittern dumpf ihre Sippschaft, die bis in die Fingerspitzen allgemeinmenschlicher Vorstellungen bar war.
    Die Untersuchungsrichter, die waren doch die letzten, an die selbsterfundenen Fälle zu glauben! Sie haben doch nicht allen Ernstes, amtliche Konferenzen ausgenommen, einander und sich selbst einreden können, daß sie Verbrecher entlarven? Und haben trotzdem Protokolle zu unserem Verderb geschrieben, fein säuberlich, Blatt um Blatt. Am Ende war’s glatt Unterweltsmoral: «Stirb du heute und ich – morgen!»
    Sie verstanden, daß die Fälle erfunden waren, und dienten dennoch fleißig Jahr für Jahr. Wie das? … Entweder sie zwangen sich, nicht zu denken (was an und für sich schon den Menschen zerstört), meinten einfach: Es muß sein! Die für uns Instruktionen schreiben, können nicht irren.
    Doch wenn wir uns recht erinnern, haben die Nazis nicht anders argumentiert …
    Oder – es mußten fortschrittliche Lehrsätze, eine granitfeste Ideologie herhalten. Als sich M. Lurie, der Direktor des Hüttenkombinats von Kriwoi Rog, ohne Widerstand dazu bewegen ließ, die zweite Lagerfrist gegen sich selber zu unterschreiben, erging sich der darob höchst gerührte Untersuchungsrichter des berüchtigten Orotukan (der Kolyma-Außenstelle für Strafversetzte, 1938) nach getanem Werk darin, daß es auch ihm «keine Freude bereite, einen gewissen Einfluß auszuüben. Trotzdem müssen wir tun, was die Partei von uns verlangt. Du bist ein altes Parteimitglied, sag: Was würdest du an unserer Stelle machen?» Und es hat den Anschein, als stimmte ihm Lurie beinahe zu (vielleicht hat er auch darum so leicht unterschrieben, weil er selbst bereits so dachte?). Klingt doch überzeugend, oder?
    Doch am häufigsten war es – Zynismus. Die mit den blauen Litzen verstanden sich auf die Hackfleischbereitung und liebten ihr Gewerbe. Der Untersuchungsrichter Mironenko in den Lagern von Dschidinsk (1944) legte dem todgeweihten Babitsch nicht ohne Stolz die Rationalität der Konstruktion dar: «Untersuchung und Gerichtsverhandlung bilden nur die juristische Verbrämung, sie können an Ihrem Schicksal nichts mehr ändern, denn dieses ist vorausbestimmt. Wenn Sie erschossen werden sollen, dann hilft Ihnen die allerreinste Unschuld nichts – sie werden erschossen.»
    «Hauptsache, wir kriegen den Mann – um den Fall sind wir nicht verlegen!» Das war in ihren Kreisen ein

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