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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Blauer entschieden unvorstellbar! Ich verstehe es einfach nicht: Was hätte ihn bei seiner Gesinnung davon abhalten sollen, vorausgesetzt, daß ihm das Ding gefiel? Schon zu Beginn der dreißiger Jahre, als wir die Jungsturmblusen trugen und am ersten Fünfjahresplan werkten, sie aber ihre Abende in aristokratisch-westlichem Stil in den Salons der Konkordija Josse und ihresgleichen verbrachten, stolzierten ihre Damen in ausländischen Kreationen umher – woher hatten sie die?

    Aber halten wir’s lieber mit der Volksweisheit: Sprichst du wider den Wolf, sprich auch über den Wolf.
    Diese Wolfsbrut – woher kommt sie in unserem Volke? Ist sie nicht von unserem Stamm? nicht von unserem Blut?
    Doch.
    Um also die weißen Ornate der Gerechten nicht allzu eifrig zu schrubben, möge jeder sich fragen: Was, wenn mein Leben sich anders gewendet hätte – wäre nicht aus mir ein gleicher Henker geworden?
    Es ist eine grausige Frage, so man ehrlich darauf antworten will.
    Ich erinnere mich an mein drittes Jahr an der Universität, es war Herbst 1938. Wir Jungen vom Komsomol wurden ins Bezirkskomitee vorgeladen, zum ersten Mal, zum zweiten: Fragebogen seien auszufüllen (nach unserer Einwilligung fragte man nicht viel), denn lange genug hätten wir die Schulbank gedrückt, es rufe uns nun die Heimat von der Chemie und Physik weg in die Schulen der NKWD. (Das ist doch immer so, daß nicht irgendwer es so haben will, sondern die Heimat in eigener Person, für die zu denken und zu sprechen sich stets eine Amtsperson findet.)
    Im Jahr zuvor hatte das Komsomol -Bezirkskomitee für die Luftwaffenschulen geworben, und auch damals versuchten wir uns zu drücken (es tat uns leid um das angefangene Studium), allerdings nicht so standhaft wie dieses Mal.
    Ein Vierteljahrhundert später könnte man meinen: Na ja, ihr habt begriffen, was an Verhaftungen um euch brodelt, was an Torturen in den Gefängnissen praktiziert wird, in welchen Sumpf man euch zerren will. Nein!! Die Gefängniswagen, die Schwarzen Raben, die fuhren doch bei Nacht, und wir gehörten zu der bei Tageslicht fahnenschwenkenden Schar. Woher hätten wir über die Verhaftungen wissen und warum darüber nachdenken sollen? Daß alle Honoratioren des Gebietes abgesetzt, abgelöst wurden – es war uns entschieden gleichgültig. Daß zwei, drei Professoren eingesperrt wurden, na und?! Sind wir mit ihnen tanzen gegangen? Die Prüfungen würden nur noch leichter werden. Wir, die Zwanzigjährigen, marschierten in der Kolonne der Oktobergeborenen, und als Oktobergeborene erwartete uns die allerlichteste Zukunft.
    Leicht läßt sich’s nicht umreißen, jenes durch keine Beweisgründe zu belegende Etwas, das uns davon abhielt, in die Schulen der NKWD zu gehn. Die Vorlesungen über historischen Materialismus hätten uns eines gänzlich anderen belehren müssen: Klar ergab sich daraus, daß der Kampf gegen den inneren Feind ein heißer Krieg, eine ehrenvolle Aufgabe sei. Es widersprach auch unserem praktischen Vorteil: Die Provinzstadtuniversität hatte uns zu jener Zeit nicht mehr zu bieten als einen kümmerlich bezahlten Lehrerposten in einem gottverlassenen Landkreis; die NKWD-Schulen lockten mit üppigen Naturalien und doppeltem bis dreifachem Gehalt. Was wir empfanden, hatte keine Worte (und wenn, so hätten wir sie aus Angst einander nicht anvertrauen können). Irgendwo, nicht im Kopf – in der Brust saß der Widerstand. Von allen Seiten können sie auf dich einreden: «Du mußt!», und dein eigener Kopf ruft im Chor: «Du mußt!», bloß die Brust sträubt sich: Ich will nicht, ES STINKT! Ohne mich, wie ihr wollt, aber ich bleibe draußen!
    Nichtsdestoweniger ließ sich mancher von uns damals anwerben. Ich glaube, sie hätten nur sehr stark zuziehen müssen, um uns andere auch zu brechen. So will ich mir also ausmalen: Wenn ich zu Kriegsbeginn schon ein paar Würfel am Kragenspiegel gehabt hätte, was wäre dann aus mir geworden? Man könnte sich heute freilich darin wiegen, daß mein Gemüt es nicht ertragen hätte; ich hätte den Mund nicht gehalten und wäre mit Krach davongegangen. Als ich aber auf den Gefängnispritschen lag, da begann ich meine tatsächliche Offizierslaufbahn zu überdenken – und es graute mir.
    Und als mir die Smersch -Leute beim Brigadekommandeur damals diese verfluchten Achselstücke samt dem Koppel herunterrissen und mich vor sich hin schoben zu ihrem Auto, da war ich angesichts dieses Trümmerhaufens meines Daseins auch noch dadurch zutiefst

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