Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
betroffen, daß ich nun in solch degradiertem Zustand durchs Zimmer der Telefonisten gehen sollte, o Schreck, daß mich Gemeine in diesem Aufzug sahen!
Hier angelangt, möchte das Buch wieder schließen, wer in ihm politische Entlarvungen und Anklagen zu finden erwartete.
Wenn es nur so einfach wäre! – daß irgendwo schwarze Menschen mit böser Absicht schwarze Werke vollbringen und es nur darauf ankäme, sie unter den übrigen zu erkennen und zu vernichten. Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?
Während der Lebensdauer eines Herzens bleibt dieser Strich nicht unbeweglich, bedrängt einmal vom frohlockenden Bösen, gibt er dann wieder dem aufkeimenden Guten freien Raum. Ein neues Lebensalter, eine neue Lebenslage – und ein und derselbe Mensch wird ein sehr anderer. Einmal dem Teufel näher und dann auch wieder einem Heiligen. Der Name, ja, der bleibt, und ihm wird alles zugeschrieben.
Solches war Sokrates’ Vermächtnis: Erkenne dich selbst!
Vor der Grube also, in die wir eben unsere Beleidiger haben stoßen wollen, halten wir wie vor den Kopf geschlagen inne: Das hat sich doch, ehrlich, bloß so ergeben, daß nicht wir die Henker waren, sondern sie.
Vom Guten zum Bösen ist’s einen Windstoß weit, sagt unser Sprichwort.
Demnach auch vom Bösen zum Guten.
Als eben erst in der Gesellschaft die Erinnerung an jene Gesetzwidrigkeiten und Folterungen aufwogte, begann man uns auch schon von allen Seiten zu erläutern, zu schreiben, zu entgegnen: dort (in allen GBs) hat es auch Gute gegeben!
In Kischinew wurde Schipowalnikow einen Monat vor seiner Verhaftung von einem jungen Sicherheitsleutnant aufgesucht: «Fahren Sie fort, schnell, man will Sie verhaften?» (Ob aus eigenen Stücken? Ob die Mutter ihn geschickt, den Priester zu retten?) Nach der Verhaftung fiel es ihm auch noch zu, Vater Viktor persönlich zu eskortieren. Es betrübte ihn echt: «Warum sind Sie nicht fort?»
Als Vera Kornejewa von ihrem Untersuchungsrichter Goldman der § 206 zur Unterschrift vorgelegt wurde, witterte sie ihre Rechte und machte sich daran, das ganze Dossier aller siebzehn Mitglieder ihrer «religiösen Gruppe» genauestens zu studieren. Goldman sah rot, mußte sich aber fügen. Auf daß ihm also mit ihr die Zeit nicht lang wurde, führte er sie in ein großes Büro, wo ein gutes Dutzend verschiedener Angestellter herumsaßen, und ging fort. Zuerst las die Kornejewa in Akten, dann kam unvermutet ein Gespräch in Gang, aus Langeweile wohl, von seiten der Angestellten – und am Ende hielt ihnen Vera Kornejewa eine echte religiöse Predigt. (Man muß sie zudem kennen. Ein leuchtender Mensch ist sie, mit einem lebendigen Verstand und einer freien Art zu reden, obwohl sie «draußen» nicht mehr war als Schlosser, Pferdemagd und Hausfrau.) Gebannt hörte man ihr zu, hier und da sie durch eine klärende Frage unterbrechend. Es war dies alles für die Leute sehr neu vorgebracht. Das Zimmer füllte sich, von nebenan kamen welche hinzu. Gewiß, es waren nicht Untersuchungsrichter, sondern Stenotypistinnen und Bürodiener, trotzdem aber – aus ihrem Milieu, aus den Organen, im Jahre 1946. Schwer ist’s, Veras Monolog jetzt zu rekonstruieren, vielerlei vermochte sie ihnen noch zu sagen. Über die Vaterlandsverräter – warum hatte es 1812 im damaligen Krieg keine gegeben? Unter der Leibeigenschaft, wohlgemerkt! Was natürlicher, als sie damals zu vermuten? Am meisten aber sprach sie über den Glauben und die Gläubigen. Früher, sagte sie ihnen, habt ihr alles auf die entfesselte Leidenschaft gesetzt – «plündert das Geplünderte», und die Gläubigen standen euch dabei klarerweise im Weg. Heute aber, wo ihr bauen wollt und in dieser Welt in Seligkeit schwimmen, was habt ihr da von der Verfolgung der besten eurer Bürger? Ist’s nicht für euch das allerwertvollste Material: Denn der Gläubige braucht keine Kontrolle, der stiehlt nicht und ist aus eigenem Antrieb zum Arbeiten bereit. Ihr aber wollt eine gerechte Gesellschaft auf Neidern und Faulenzern gründen. Darum zerbröckelt euch auch alles unter den Händen. Warum müßt ihr den Besten in die Seele treten? Gebt der Kirche die echte Lostrennung, laßt sie in Ruhe, und es wird euer Vorteil sein! Ihr seid Materialisten? Dann vertraut doch auf den Aufschwung der Bildung, wenn ihr meint, daß sie den Glauben aufhebt. Wozu verhaften?
Da trat Goldman ins Zimmer und fuhr
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