Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
wegnehmen? Wenn diese Feinde ohnedies sterben mußten, warum sollten sie nicht durch ihren Tod der Aufrechterhaltung des Tierbestandes in der Republik nützen und damit unseren Sprung in die Zukunft fördern? Das wäre doch zweckmäßig, oder?
Dies ist die Linie, die Shakespeares Bösewicht nicht übertreten kann. Der Bösewicht mit Ideologie schreitet darüber hinweg – und seine Augen bleiben klar.
Die Physik kennt Schwellen werte und -erscheinungen. Erscheinungen sind es, die es gar nicht gibt, solange nicht eine bestimmte, der Natur bekannte, von der Natur chiffrierte Schwelle übertreten ist. Mit gelbem Licht kannst du Zinksulfid solange du willst bestrahlen – es gibt keine Elektronen ab, aber es braucht nur einen Schimmer von Blau – und die Elektronen sind gelöst (die Schwelle des Fotoeffekts ist überschritten)! Du kannst Sauerstoff abkühlen bis auf hundert Grad und tiefer, ihn unter beliebigen Druck setzen – das Gas bleibt Gas und gibt seinen Widerstand, Flüssigkeit zu werden, erst bei hundertachtzig auf.
Und so will es den Anschein haben, als wäre ein Schwellenwert auch die böse, die verbrecherische Untat. Ja, es wankt und zaudert der Mensch sein Leben lang zwischen Gut und Böse, rutscht aus, rutscht ab, klettert hoch, bereut und wird wieder finsterer, doch solange die Schwelle der Greueltat nicht überschritten ist, liegt die Rückkehr in seiner Hand, ist er selber noch von unserer Hoffnung erfaßbar. Sobald er aber durch die Dichte seiner Vergehen oder den Grad ihrer Verderbtheit oder die Absolutheit der Macht über die Schwelle hinausgeht, hat er die Menschheit verlassen. Vielleicht unwiederbringlich.
Die Vorstellung von der Gerechtigkeit setzt sich bei den Menschen von alters her aus zwei Hälften zusammen: Die Tugend triumphiert, das Laster wird bestraft.
Wir hatten das Glück, die Zeit zu erleben, da die Tugend zwar nicht triumphiert, aber doch auch nicht immer mit Hunden gehetzt wird. Die Tugend, die geschundene, sieche, darf eintreten heute in ihrem Bettelkleid, in einem Winkel hocken, bloß nicht aufmucken.
Doch wehe dem, der über das Laster ein Wort verliert. Ja, die Tugend wurde mit Füßen getreten, aber das Laster – war nicht dabei. Ja, Millionen, einige, mehrere, wurden in den Abgrund gefegt, aber schuld daran – war niemand. Und jeder bängliche Anlauf: «Was ist aber mit denen, die …» stößt allseits auf Vorwurf, fürs erste noch wohlwollend: «Was denn, Genosse! Wozu denn die alten Wunden aufreißen ?!» Später auch mit erhobenem Holzhammer: «Kusch, ihr Überleber! Das hat man von der Rehabilitiererei!»
Und dann hört man aus Westdeutschland, daß dort bis 1966 86 000 Naziverbrecher verurteilt wurden – und wir trumpfen auf, wir geizen nicht mit Zeitungsspalten und Hörfunkstunden, wir brennen darauf, auch noch nach der Arbeit zu einer Kundgebung zu eilen und zu fordern wie ein Mann: «Auch 86 000 sind zuwenig! Auch zwanzig Jahre sind zuwenig. Weitermachen!»
Bei uns aber stand (nach Berichten des Militärkollegiums beim Obersten Gericht) ein KNAPPES DUTZEND vor Gericht.
Was hinter der Oder und hinter dem Rhein geschieht, das bekümmert uns sehr. Aber das Hiesige hinter den grünen Zäunen bei Moskau und bei Sotschi, aber das Hiesige, daß die Mörder unserer Männer und Väter auf unseren Straßen fahren und wir ihnen den Weg freigeben – das kümmert uns nicht, das rührt uns nicht an, das heißt «im Vergangenen wühlen».
Will man indessen die 86 000 aus Westdeutschland auf unsere Relationen übertragen, dann ergäbe dies für unser Land EINE VIERTELMILLION!
Doch auch in einem Vierteljahrhundert haben wir niemanden von ihnen gefunden, haben niemanden von ihnen vors Gericht zitiert, haben Angst, ihre Wunden aufzureißen. Und als Symbol ihrer aller wohnt in der Granowskistraße 3 der selbstgefällige, bornierte, von Kopf bis Fuß von unserem Blut durchtränkte Molotow und wandert gemessenen Schritts, bis heute von nichts überzeugt, zu der am Straßenrand wartenden Luxuslimousine.
Ein Rätsel ist’s, nicht für uns Zeitgenossen zu lösen: Weswegen ist es Deutschland gegeben, seine Mörder zu strafen, und Rußland nicht? Welch verhängnisvoller Weg steht uns bevor, wenn es uns nicht gegeben ist, die giftige Fäulnis aus unserem Leben zu schneiden? Was soll dann die Welt von Rußland lernen?
In den deutschen Gerichtsprozessen geschieht dann und wann etwas Wunderbares: Der Angeklagte faßt sich an den Kopf, schlägt die Verteidigung aus und will das
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