Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
sie an zu schweigen. Alles wandte sich gegen ihn: «Halt doch den Mund! … Sei still endlich! Sprich nur, sprich, Weib!» (Wie denn sie nennen? Bürgerin, Genossin? Das war verboten, in Konventionen verstrickt. Weib! Du gehst nicht fehl, wenn du es Jesus nachsprichst.) Und Vera fuhr fort, in Anwesenheit ihres Untersuchungsrichters!!
Nun, diese Zuhörer von Vera Kornejewas Predigt in einem Büro des Staatssicherheitsdienstes – woher kam es, daß ihnen das Wort der törichten Gefangenen so lebendig zuflog?
Warum hat es ihnen, seit bald zweihundert Jahren nunmehr, gerade die Farbe des Himmels angetan? Zu Lermontows Zeiten waren es die «Oh, ihr blauen Uniformen!», später die blauen Mützen, die blauen Achselklappen, die blauen Kragenspiegel. Man hieß sie, möglichst unauffällig zu sein; die blauen Felder flohen den Dank des Volkes, zogen sich auf Haupt und Schultern zu Kanten und schmalen Litzen zusammen – und blieben himmelblau trotz alledem!
Ob’s nur Maskerade ist? Ob nicht vielmehr jede Schwärze sich bisweilen am Himmel läutern muß?
Schön wäre der Gedanke. Bis du erfährst, in welcher Form beispielsweise Jagoda dem Heiligen anhing … Ein Augenzeuge (aus der Gefolgschaft Gorkis, der damals Jagoda nahestand) berichtet: In Jagodas Landgut bei Moskau waren im Vorraum zum Badehaus Ikonen aufgestellt – eigens dazu, damit Jagoda mit Konsorten, nackend, aus Pistolen darauf schießen konnte, bevor er sich zum Aufguß begab …
Wie ist das zu verstehen: EIN BÖSEWICHT? Was ist das? Gibt es das überhaupt?
Näher käme es uns zu sagen, daß es ihn nicht geben kann, daß es ihn nicht gibt. Märchen dürfen Bösewichter zeichnen – für Kinder, der Einfachheit des Bildes halber. Und wenn uns die große Weltliteratur der vergangenen Jahrhunderte – mit Shakespeares und Schillers und Dickens’ vereinten Kräften – pechschwarze Bösewichter auf die Beine stellt, dann sieht es für uns schon fast possenhaft aus und leicht befremdlich für das moderne Empfinden. Und schließlich die Hauptsache: Wie sind die Bösewichter gezeichnet? Ihre Bösewichter verstehen sich durchaus selbst als Bösewichter und wissen um die Schwärze ihrer Seele. Daraus folgt der klare Schluß: Ich kann nicht leben, ohne Böses zu tun. Laßt mich mal den Vater auf den Bruder hetzen! Laßt mich an den Leiden des Opfers mich weiden! Jago nennt seine Ziele und Beweggründe ohne Umschweife – schwarz, in Haß geboren.
Nein, das gibt es nicht! Nicht so! Um Böses zu tun, muß der Mensch es zuallererst als Gutes begreifen oder als bewußte gesetzmäßige Tat. So ist, zum Glück, die Natur des Menschen beschaffen, daß er für seine Handlungen eine Rechtfertigung suchen muß.
Macbeths Rechtfertigungen waren schwach – und es zernagte ihn sein Gewissen. Und auch Jago ist ein Jagnjonjok – ein Lamm. Die Phantasie und Geisteskraft der Shakespeareschen Bösewichter machte bei einem Dutzend Leichen halt. Denn es fehlte ihnen die Ideologie.
Die Ideologie! Sie ist es, die der bösen Tat die gesuchte Rechtfertigung und dem Bösewicht die nötige zähe Härte gibt. Jene gesellschaftliche Theorie, die ihm hilft, seine Taten vor sich und vor den anderen reinzuwaschen, nicht Vorwürfe zu hören, nicht Verwünschungen, sondern Huldigungen und Lob. So stärkten sich die Inquisitoren am Christentum, die Eroberer an der Erhöhung der Heimat, die Kolonisatoren an der Zivilisation, die Nationalsozialisten an der Rasse, die Jakobiner (die früheren und die späteren) an der Gleichheit, an der Brüderlichkeit und am Glück der künftigen Generationen.
Dank der Ideologie war es dem 20. Jahrhundert beschieden, die millionenfache Untat zu erleiden. Sie ist nicht zu leugnen, nicht zu umgehen, nicht zu verschweigen – und doch wollen wir es wagen, darauf zu bestehen, daß es Bösewichter nicht gibt? Wer hat denn diese Millionen vernichtet? Ohne Bösewichter gäbe es auch keinen Archipel.
Ein Gerücht kam auf, so um 1918–20, daß die Petrograder Tscheka und die von Odessa angeblich nicht alle Verurteilten erschossen, sondern einen Teil (lebendigen Leibes) an die Tiere der städtischen Tierparks verfütterten. Ich weiß nicht, ob es wahr ist oder üble Nachrede, und wenn es stimmt, dann – wie oft? Doch ich würde gar nicht nach Beweisen suchen: Wie das so bei den blauen Litzen Brauch ist, würde ich es ihnen überlassen, das Gegenteil zu beweisen. Woher auch inmitten der damaligen Hungersnot Futter für die Tiergärten auftreiben? Der Arbeiterklasse
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