Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
mußten auch noch die krummen Messer des zwanzigsten in die alten Wunden stechen. (Ob das schon alles war? Ob schon zum letzten Mal?) – Gradliniger war, scheint’s, der Werdegang des Osintorfer Bataillons, das inzwischen nach Pskow verlegt worden war. Etwa 600 Soldaten und 200 Offiziere waren es, in russischer Uniform, mit der weiß-blau-roten Fahne und unter dem Kommando von Emigranten (I. K. Sacharow, Lamsdorf). Das Bataillon wurde auf die Stärke eines Regiments gebracht und sollte unter Berücksichtigung der dortigen Zwangsarbeiterlager als Fallschirmtruppe an der Linie Wologda-Archangelsk abgesetzt werden. Das ganze Jahr 1943 über gelang es Igor Sacharow, seine Leute aus dem Einsatz gegen Partisanen herauszuhalten. Daraufhin wurde er kaltgestellt, das Bataillon aber entwaffnet, ins Lager zurückgeschickt, später an die Westfront verlegt. Verloren, vergessen, als unnütz längst verworfen war von den Deutschen der ursprüngliche Plan; im Herbst 1943 wurde der Beschluß gefaßt, das russische Kanonenfutter – zum Atlantikwall zu bringen, gegen französische und italienische Partisanen einzusetzen. Wer von den Wlassow-Leuten politische Motive oder Hoffnungen im Sinne hatte, dem waren sie verlorengegangen.
Die Bewohner der besetzten Gebiete verachteten sie als deutsche Söldlinge, die Deutschen schauten auf sie wegen ihres russischen Blutes herab. Ihre kümmerlichen Publikatiönchen wurden von der deutschen Zensurschere auf Großdeutschland und Führer zugeschnitten. Und darum blieb den Wlassow-Leuten einzig der Kampf bis aufs Messer – und in den Mußestunden der ewige Wodka. Ihr Schicksal war von Anfang an besiegelt, und es gab für sie in all den Jahren des Krieges und der Fremde kein Entrinnen irgendwohin.
Schon mit dem Rücken an der Wand, schon am Vorabend des Untergangs, hielten Hitler und seine Umgebung noch immer an ihrem unbeirrbaren Mißtrauen gegen eigenständige russische Verbände fest, noch immer konnten sie sich nicht zu ganzheitlichen russischen Divisionen entschließen, in denen sie den Schimmer eines unabhängigen, ihnen nicht unterworfenen Rußlands witterten. Erst im Getöse des letzten Zusammenbruchs, im November 1944, wurde die Bewilligung zur späten Show gegeben: Alle nationalen Gruppen des «Komitees zur Befreiung der Völker Rußlands» durften sich in Prag versammeln und ein Manifest erlassen (eine Mißgeburt wie die früheren, denn sich ein Rußland ohne Deutschland und ohne den Nazismus vorzustellen, war darin verboten). Vorsitzender des Komitees wurde Wlassow. Erst im Herbst 1944 wurden die durchweg aus Russen bestehenden eigentlichen WlassowDivisionen aufgestellt. Die weisen deutschen Politiker gaben sich offensichtlich dem Glauben hin, daß die russischen Ostarbeiter gerade jetzt scharenweise zu den Waffen eilen würden. Die Rote Armee stand inzwischen schon an der Weichsel und an der Donau … Und wie zum Hohn, wie um den Weitblick der kurzsichtigen Deutschen zu bestätigen, führten die WlassowDivisionen ihren ersten und letzten selbständig ausgeheckten Schlag … gegen die Deutschen! Ende April, als rundherum alles niederkrachte, versammelte Wlassow, bereits ohne Absprache mit dem Oberkommando, seine zweieinhalb Divisionen in der Nähe von Prag. Da wurde es ruchbar, daß SS-General Steiner Vorbereitungen traf, um die tschechische Hauptstadt zu vernichten, ehe er sie dem Feind übergab. Und Wlassows Divisionen liefen auf seinen Befehl zu den aufständischen Tschechen über. Und was sich an Bitterkeit, Kränkung und Zorn in den geknebelten russischen Herzen während dieser unbarmherzigen und wirren drei Jahre gegen die Deutschen gespeichert hatte, tobte sich jetzt im Angriff aus: Die Deutschen wurden überrumpelt und aus Prag vertrieben. (Ob sich wohl alle Tschechen später darüber im klaren waren, welche Russen ihnen die Stadt bewahrten? Bei uns wird die Geschichte verzerrt, darum heißt es, daß Prag von den sowjetischen Truppen gerettet wurde, obwohl die gar nicht hätten zur rechten Zeit kommen können.)
Danach begann die Wlassow-Armee ihren Rückzug nach Bayern, den Amerikanern entgegen: Die Alliierten waren nunmehr ihre einzige Hoffnung; wenn sie nur den Alliierten von Nutzen sein konnten, dann würde auch ihr langjähriges Baumeln in der deutschen Schlinge einen Sinn erhalten. Doch die Amerikaner empfingen sie in Wehr und Waffen und zwangen sie, wie von der Konferenz in Jalta vorgesehen, zur Übergabe an die sowjetische Seite. Im gleichen Monat Mai folgte in
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