Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Maschinenraum
Die anliegende Box des Butyrka-«Bahnhofs», die berühmte «Filzbox» (wo die Neuankömmlinge durchsucht wurden und es Platz genug gab, daß fünf, sechs Aufseher in einem Schub bis zu zwanzig Seki bearbeiten konnten), stand an diesem Tage leer, blank die großen Filzertische, nur etwas abseits saß an einem kleinen zufälligen Tischchen, von einer herabhängenden Lampe angeleuchtet, ein adretter schwarzhaariger NKWD-Major. Sein Gesicht drückte im wesentlichen – geduldige Langeweile aus. Es war reine Zeitverschwendung für ihn dazusitzen, bis alle Häftlinge einzeln vor-und abgeführt worden waren. Das Einsammeln der Unterschriften wäre bedeutend schneller zu bewerkstelligen gewesen.
Er wies mich auf den Schemel, der vor dem Tisch stand, erkundigte sich nach meinem Namen. Zu seiner Rechten und zu seiner Linken lagen, durch das Tintenfaß getrennt, zwei Stöße mit völlig gleichen weißen Zettelchen, vom Schreibmaschinenpapier das halbe Format, nicht größer als das, was man üblicherweise in den Hausverwaltungen als Heizungsquittung und in den Büros als Vollmacht zum Empfang von Schreibmaterial ausgehändigt bekommt. Der Major durchblätterte den ersten Stoß und fand den Zettel, der mich betraf, zog ihn hervor, leierte gleichgültig den Inhalt herunter (ich fing noch auf: «acht Jahre») und kritzelte auf der Rückseite auch schon den Vermerk, daß mir der Text am soundsovielten zur Kenntnis gebracht worden sei.
Mein Herz schlug um keinen halben Schlag schneller, so alltäglich war das. Soll das wirklich mein Urteil gewesen sein, die Schicksalsstunde meines Lebens? Ich hätte gern eine Bewegtheit verspürt, dem Augenblick angepaßt – es wollte mir nicht gelingen. Der Major schob mir unterdessen den Zettel hin, mit der Rückseite nach oben. Und der Siebenkopekenfederhalter, mit einem aus dem Tintenfaß hervorgezogenen Faserklumpen an der Spitze, lag für mich parat.
«Nein, ich muß es selber lesen.»
«Glauben Sie, daß ich Sie anlüge?» erwiderte schläfrig der Major. «Na, meinetwegen.»
Und gab unwillig den Zettel frei. Ich drehte ihn um und begann die Sache absichtlich langsam zu studieren, nicht Wort für Wort, sondern jeden Buchstaben für sich. Es war maschinengeschrieben, allerdings nicht das erste Exemplar, sondern eine Kopie:
AUSZUG
aus dem Beschluß des OSO beim NKWD der UdSSR vom
7. Juli 1945, Nr. …
Das war dick unterstrichen und der Rest durch eine gepunktete Vertikale in
zwei Teile geschnitten:
Zur Verhandlung stand:
Die Anklage gegen Soundso
(Name, geboren am …
in …)
Beschlossen wurde:
Besagten Soundso wegen antisowjetischer Agitation und versuchter Gründung einer antisowjetischen Organisa-
tion mit 8 (acht) Jahren Besserungsarbeitslager zu bestrafen.
Die Abschrift beglaubigt ...........
(Sekretär)
Ob ich wirklich einfach unterschreiben und schweigend fortgehen sollte? Ich sah den Major an: Will er mir nicht etwas sagen, erläutern? Nein, er hatte nicht die Absicht. Er winkte schon dem Aufseher an der Tür, den nächsten bereitzuhalten.
Um dem Augenblick wenigstens ein bißchen Bedeutsamkeit zu verleihen, fragte ich in tragischem Ton:
«Aber das ist doch furchtbar! Acht Jahre! Wofür?»
Und hörte selber, daß meine Worte falsch klangen; von Furchtbarem spürten weder ich noch er etwas.
«Da, hier», zeigte mir der Major noch einmal, wo ich zu unterschreiben hatte.
Ich unterschrieb. Mir fiel einfach nicht ein, was ich noch tun könnte.
«Dann erlauben Sie mir zumindest, daß ich hier gleich die Berufung niederschreibe. Das Urteil ist doch ungerecht.»
«Wie ordnungsgemäß festgelegt», winkte der Major mechanisch ab, während er meinen Zettel auf dem linken Stoß ablegte.
«Folgen Sie mir!» befahl der Aufseher.
Und ich folgte.
(Ich war, wie sich herausstellte, nicht schlagfertig genug. Georgij Tenno, dem sie allerdings einen Zettel auf fünfundzwanzig Jahre brachten, antwortete so: «Das bedeutet doch lebenslänglich! Wenn man einen in früheren Jahren zur lebenslangen Haft verurteilte, wurden die Pauken geschlagen und eine Menge zusammengetrommelt. Ihr aber macht es wie mit einer Seifenquittung: fünfundzwanzig, und der nächste bitte!»
Arnold Rappoport nahm die Feder und schrieb auf der Rückseite: «Ich protestiere kategorisch gegen das gesetzwidrige Terrorurteil und fordere meine sofortige Freilassung.» Der Urteilsverkünder hatte bis dahin geduldig gewartet und wurde erst zornig, als er das Geschriebene las; er zerriß den Wisch samt
Weitere Kostenlose Bücher