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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Österreich ein gleich loyaler alliierter Schritt (welcher bei uns aus gewohnter Bescheidenheit verschwiegen wurde); Churchill lieferte dem sowjetischen Kommando das Kosakenkorps aus, 90 000 Mann und dazu einen großen Troß mit Weib und Kind und Kegel und allem, was nicht an die heimatlichen Kosakenflüsse zurückkehren wollte. (Der große Staatsmann, von dessen Denkmälern dereinst ganz England übersät sein wird, hatte befohlen, auch diese ans Messer zu liefern.)
    Einige Tage vor meiner Verhaftung geriet auch ich unter Wlassowsche Kugeln. In dem von uns umzingelten ostpreußischen Kessel gab es ebenfalls Russen. In einer der letzten Januarnächte unternahm ihre Abteilung einen Ausbruchsversuch, gegen Westen – ohne Artillerievorbereitung, schweigend. Da es keine durchgehende Front gab, vertieften sie sich rasch in unsere Stellungen und nahmen meine vorgeschobene Schallmeßbatterie in die Zange, so daß ich Mühe hatte, meine Leute über die letzte freie Straße hinauszulotsen. Um ein angeschossenes Fahrzeug zu holen, kehrte ich später zurück und sah, wie sie sich vor Morgengrauen, alle in Tarnmänteln, auf dem Schnee zusammenrotteten, dann plötzlich aufsprangen, mit Hurra gegen die Feuerstellung der 152-Millimeter-Division bei Adlig-Schwenkitten losstürmten und die zwölf schweren Geschütze, ehe sie einen einzigen Schuß abgeben konnten, mit Handgranaten außer Gefecht setzten. Von ihren Leuchtkugeln begleitet, floh unser letztes Häuflein drei Kilometer weit über weglose Schneefelder bis zur Brücke über den schmalen Passarge-Fluß.
    Bald folgte meine Verhaftung, und so saßen wir nun am Vorabend der Siegesparade alle gemeinsam auf den Pritschen der Butyrka, ich rauchte ihre Stummel zu Ende und sie die meinen, und ich trug mit einem von ihnen das blecherne Abortgefäß hinaus, sechs Eimer, wenn’s voll war.
    Heute, ein Vierteljahrhundert später, da die Mehrzahl von ihnen in den Lagern zugrunde gegangen ist und die Überlebenden den Rest ihrer Jahre im hohen Norden dahinbringen, wollte ich mit diesen Seiten daran erinnern, daß dies eine für die Weltgeschichte recht ungewöhnliche Erscheinung ist: wenn einige hunderttausend junge Männer im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren im Bündnis mit dem ärgsten Feind die Waffen gegen ihr Vaterland erheben. Daß man sich vielleicht überlegen sollte, wer die größere Schuld dafür trägt: diese Jungen oder das altehrwürdige Vaterland? Daß man dies mit biologischer Treulosigkeit nicht erklären kann, sondern soziale Ursachen suchen muß.
    Denn es stimmt, wie’s im alten Sprichwort heißt: Das Futter treibt den Gaul nicht aus dem Stall.
    So denke man sich das: ein Feld … und auf dem Feld treiben verwahrloste und verwilderte, zu Gerippen abgemagerte Pferde umher.

    Noch saßen in jenem Frühjahr viele russische Emigranten in den Zellen.
    Es mutete einen beinahe wie ein Traum an: die Rückkehr der vergangenen Geschichte. Längst waren die Werke über den Bürgerkrieg zu Ende geschrieben und in den Regalen verstaut, seine Belange gelöst und seine Ereignisse in den Chronologien der Lehrbücher vermerkt. Die führenden Männer der Weißen Bewegung waren uns nicht mehr Zeitgenossen auf Erden, sondern Gespenster aus nebliger Vergangenheit. Die russischen Emigranten, die’s härter über die Welt verstreut hatte als die Stämme Israels, mußten, wenn nicht überhaupt längst verkümmert, nach unseren sowjetischen Vorstellungen ein elendes Dasein fristen: nichts als Eintänzer in drittklassigen Lokalen, Lakaien, Wäscherinnen, Bettler, Morphinisten, Kokainisten und lebende Leichname. Bis zum Krieg von 1941 war unseren Zeitungen, genausowenig wie der hohen Belletristik und der literarischen Kritik, auch nur andeutungsweise zu entnehmen (und unsre satten Meister ließen uns darob im dunkeln), daß das russische Ausland eine große geistige Welt darstellte, in der eine russische Philosophie blühte, mit Bulgakow, Berdjajew, Losski, eine viel umjubelte russische Kunst, mit Rachmaninow, Schaljapin, Diaghilew, der Pawlowa, dem Maler Benois und dem Kosakenchor von Jaroff; daß dort eine profunde Dostojewski-Forschung betrieben wurde (während sein Name bei uns zu damaliger Zeit mit dem Bannfluch belegt war); daß es diesen unglaublichen Schriftsteller Nabokov gab; daß Bunin noch lebte und gewiß doch in den zwanzig Jahren etwas geschrieben hatte; daß literarische Zeitschriften verlegt und Stücke in russischer Sprache inszeniert wurden; daß sich Landsleute auf

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