Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
militärische Verbrechen, Mord, Vergewaltigung, Raub und Plünderung (die in jenen Gebieten damals stark um sich griffen). Das war von den unpopulärsten Maßnahmen eine, an denen die Provisorische Regierung letztlich zugrunde ging. Mit der Losung: «Nieder mit der Todesstrafe! Nieder mit Kerenski, der sie uns wiedergebracht!» riefen die Bolschewiki zum Umsturz auf.
Wenn man den offiziellen Dokumenten glauben darf, wurde die Todesstrafe im Juni 1918 im vollen Umfang – nein, nicht «wiederhergestellt», sondern als neue Hinrichtungs ära konstituiert. Wenn wir annehmen, daß Lazis nicht zu niedrig veranschlagt, sondern lediglich über unvollständige Angaben verfügt, und davon ausgehen, daß die Revolutionstribunale in ihrer richterlichen Arbeit der außergerichtlichen Aktivität der Tscheka zumindest ebenbürtig waren, kommen wir zu dem Schluß, daß in den zwanzig zentralen Gouvernements Rußland in 16 Monaten (von Juni 1918 bis Oktober 1919) mehr als 16 000 Menschen erschossen wurden; das ergibt mehr als 1000 im Monat.
Im übrigen waren es vielleicht gar nicht diese einzelnen, durch Gerichtsurteil ausgesprochenen oder unausgesprochen gebliebenen, später zu Tausenden anschwellenden Erschießungen, durch die sich die 1918 beginnende Hinrichtungsära dem russischen Menschen schaurig und berauschend ankündigte. Schrecklicher dünkt uns jener in Mode gekommene Brauch der kriegführenden Parteien und später dann der Sieger: ganze Lastkähne zu versenken, jedesmal mit ungezählten, nirgendwo aufgezeichneten, nicht einmal aufgerufenen Hunderten von Menschen. (Die Seeoffiziere im Finnischen Meerbusen, im Weißen und Schwarzen und Kaspischen Meer, und noch 1920 eine Partie Geiseln im Baikalsee.) In unserer enggefaßten Gerichtsgeschichte findet das keinen Platz, dafür aber in der Geschichte der Sitten, woraus das weitere folgt. Wo hat es in all unseren Jahrhunderten vom ersten Rurik an eine ähnliche Ballung von Grausamkeiten und Morden gegeben wie im Bürgerkrieg?
1932/33 kam die Todesstrafe energisch zur Anwendung, da ging’s mit dem Erschießen hoch her. In dieser friedlichen Zeit (zu Kirows Lebzeiten noch …) warteten allein in den Leningrader Kresty im Dezember 1932 265 Todeskandidaten gleichzeitig auf die Vollstreckung – und in einem Jahr werden es in diesen Kresty wohl tausend und darüber gewesen sein.
Was waren es für Missetäter? Woher die vielen Verschwörer und Querulanten? Na, da saßen zum Beispiel sechs Kolchosbauern aus der Umgebung von Zarskoje Selo, deren Schuld im folgenden bestand: Auf der bereits (mit ihren Händen!) abgemähten Kolchoswiese heuten sie, was an den Erdhügeln übriggeblieben war, für die eigenen Kühe ab. Von diesen sechs Bauern wurde kein einziger durch das WZIK begnadigt, das Urteil wurde vollstreckt!
Welche blutrünstige Saltytschicha, welcher noch so gemeine und widerliche Feudalherr hätte es wagen können, sechs Bauern wegen ein paar Büschel Gras zu töten ? … Ja, schon das Auspeitschenlassen hätte genügt, daß wir seinen Namen behielten und in den Schulen verfluchten. Und nur zu hoffen bleibt’s, daß der Bericht meines lebenden Zeugen dereinst dokumentarisch bestätigt werden wird. Wenn Stalin sonst niemand und niemals mehr umgebracht hätte – in meinen Augen hätte er allein für diese sechs Bauern in den Kresty das Vierteilen verdient! Und da gibt es dann noch welche (in Peking, in Tirana, in Tbilissi, na, und auch von den Moskauer Fettwänsten genug), die sich uns anzugrunzen unterstehen: «Wie habt ihr es wagen können, ihn zu entlarven? … Gegen den großen Toten die Hand zu erheben? … Stalin gehört der kommunistischen Weltbewegung!» – Ich meine jedoch: nur dem Strafgesetz. «Die Völker der Erde gedenken seiner mit Sympathie …» – nur jene nicht, die er vor seinen Karren gespannt und mit der Knute ausgepeitscht hatte.
Genug, wir kehren zu Gelassenheit und Unparteilichkeit zurück. Natürlich hätte das WZIK, da dies versprochen, das Höchstmaß «zur Gänze aufgehoben», das Schlimme war bloß, daß das WZIK selber im Jahre 1936 vom Vater und Lehrer «zur Gänze aufgehoben» ward. Der Oberste Sowjet indes, der hielt sich schon eher ans Vorbild der Kaiserin Anna Ioannowna selig. Bald wurde nur noch ein Höchstmaß an Strafe «gewährt», aber nicht mehr ein Höchstmaß jenes unerfindlichen «Schutzes». Die Erschießungen von 1937/38 ließen sich auch nach Stalins Sprachgefühl nicht mehr in den «Schutz»-Begriff zwängen.
Über diese
Weitere Kostenlose Bücher