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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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heißt, sie habe bei der Thronbesteigung ein Gelübde abgelegt, niemanden hinzurichten – und sie hielt sich in den zwanzig Jahren ihrer Herrschaft daran. Trotz des Siebenjährigen Krieges, den sie führte, kam sie ohne aus. Ein erstaunliches Beispiel für die Mitte des 18. Jahrhunderts: ein halbes Säkulum vor dem jakobinischen Köpferollen. Allerdings ist es uns zur zweiten Natur geworden, alles Vergangene zu bespötteln; nur kein gutes Haar daran lassen! So kann auch Elisabeth ohne große Mühe angeschwärzt werden, ersetzte sie doch die Hinrichtung – durch das Auspeitschen, das Nüsternausreißen, das Brandmarken von Dieben und die ewige Verbannung nach Sibirien. Ein gutes Wort sei aber auch zugunsten der Kaiserin vorgebracht: Wie hätte sie’s, den öffentlichen Vorstellungen zum Hohn, resoluter anpacken sollen? Und ob nicht auch der heutige Todeskandidat diesen ganzen Komplex aus freien Stücken über sich ergehen ließe, daß bloß die Sonne nicht aufhört, ihm zu scheinen? Wir aber schlagen’s ihm aus lauter Menschlichkeit nicht vor … Vielleicht auch wird der Leser dieses Buches alsbald geneigt sein, den Elisabethanischen Strafen gegenüber einem Zwanziger oder auch nur einem Zehner in unseren Lagern den Vorzug zu geben?
    Unserer heutigen Terminologie folgend, müßten wir sagen, daß Elisabeth einen allgemein-menschlichen, Katharina II. hingegen einen Klassenstandpunkt vertrat (welcher folglich auch der richtige war). Gar niemanden hinzurichten, schien ihr befremdlich und der Staatsraison nicht bekömmlich. So ließ sie denn das Schafott zu ihrem, des Thrones und des Regimes Schutze als durchaus unerläßlich bestehen: Es stand mithin für politische Fälle (Mirowitsch, die Moskauer Pestunruhen, Pugatschow) bereit. Für die Kriminellen aber, für die Bytowiki durfte die Todesstrafe – warum nicht? – als aufgehoben gelten.
    Unter Paul I. wurde die Abschaffung der Todesstrafe bestätigt. (Der Kriege gab’s genug, trotzdem waren die Regimenter ohne Tribunale.) Und während der ganzen langen Zeit der Herrschaft von Alexander I. wurde die Todesstrafe nur wegen einiger im Feldzug von 1812 begangenen militärischen Vergehen verhängt. (Nun wird man uns sogleich den Spießrutenlauf vorhalten: Stand nicht am Ende der gleiche Tod? Ganz gewiß hat es das heimliche Morden gegeben, wer wollte es leugnen? Bloß: Es kann einer auch durch die Gewerkschaftsversammlung in den Tod getrieben werden! Und es blieben trotz allem ein halbes Jahrhundert lang – von Pugatschow bis zu den Dekabristen – selbst die Staats verbrecher in unserem Lande davor verschont, durch gerichtlichen Beschluß vom Leben zum Tode befördert zu werden.)
    Das Blut der Dekabristen hat unserem Staat den Mund wäßrig gemacht. Seit damals und bis zur Februarrevolution wurde die Todesstrafe für Staatsverbrechen weder aufgehoben noch vernachlässigt. In den Gesetzbüchern von 1845 und 1904 verankert, wurde ihre Anwendung auch noch durch die militär-und seerechtlichen Bestimmungen erweitert.
    Und wie viele sind nun innerhalb dieser Zeit in Rußland hingerichtet worden? Wir führten bereits (in Kapitel 8) die von liberalen Politikern in den Jahren 1905–07 angestellten Berechnungen an. Diese können durch die geprüften Angaben von N. S. Taganzew, einem Kenner des russischen Strafrechts, ergänzt werden. Bis 1905 wurde die Todesstrafe in Rußland als außerordentliche Maßnahme gehandhabt. In den dreißig Jahren von 1876 bis 1904 (der Blütezeit des Terrorismus, der Narodnaja Wolja, der Zeit, da es nicht um in der Waschküche geäußerte Absichten ging; der Zeit der Massenstreiks und Bauernunruhen; der Zeit, in der alle Parteien der künftigen Revolution gegründet und gefestigt wurden) gab es 486 Hinrichtungen, das heißt etwa 17 pro Jahr (und zwar: die kriminellen Verbrecher mit inbegriffen). In den Jahren der ersten Revolution und ihrer Niederwerfung schnellte die Zahl der Hinrichtungen hinauf – und die russischen Menschen waren konsterniert. Tolstoi trieb’s die Tränen in die Augen, und Korolenko schlug Sturm, mit ihm andere und viele: Von 1905 bis 1908 wurden 2200 Menschen hingerichtet (45 im Monat!). Es war, wie Taganzew schreibt, eine Hinrich— tungsepedemie. (Kaum hatte er das geschrieben, da kam sie auch schon zum Stillstand.)
    Die Provisorische Regierung hat bei ihrer Einsetzung die Todesstrafe zur Gänze aufgehoben und im Juli 1917 für die im Einsatz stehende Armee und die Frontgebiete wiedereingeführt – sie stand auf

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