Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Erschießungen – wer schafft uns die approbierte Statistik herbei? Welcher Rechtskundler, welcher Kriminalhistoriker? Wo finden wir das Sonderarchiv, das sich uns öffnet und die Zahlen liefert? Es gibt sie nicht. Wird sie auch nicht geben. Darum wollen wir uns unterfangen, lediglich jene Ziffern zu wiederholen, die dazumal, 1939/40, in der Butyrka taufrisch von Zelle zu Zelle geflüstert wurden; jene Gerüchte aus erster Hand, die von den hoch-und mittelrangigen gestürzten Jeschow-Leuten herrührten, welche kurz vordem jene Zellen passiert hatten (die wußten Bescheid!). Es berichteten die Jeschow-Leute, daß in diesen zwei Jahren in der ganzen Union eine halbe Million «Politischer» und 480 000 Kriminelle erschossen wurden (die Kriminellen liefen unter § 59,3 und wurden als «Jagodas Komplicen» liquidiert; damit war der früheren «honorigen» Ganovenwelt der Todesstoß versetzt).
Im Mai 1947 legte sich Väterchen Jossif Wissarionowitsch vor dem Spiegel ein gesteiftes Jabot an; ein zufriedener Blick; er gefiel sich – und diktierte dem Präsidium des Obersten Sowjet die Aufhebung der Todesstrafe zu Friedenszeiten (und fünfundzwanzig Jahre Freiheitsentzug traten an ihre Stelle: ein guter Vorwand, das Viertelmaß einzuführen).
Doch unser Volk ist undankbar, verbrecherisch und unfähig, die Großmut zu würdigen. Darum mußten sich unsere Landesherren zweieinhalb Jahre lang recht und schlecht ohne Todesstrafe abmühen und am 12. Januar 1950 mit einem Gegen-Ukas herausrücken: «Angesichts der zahlreich eintreffenden Erklärungen von nationalen Republiken [die Ukraine?], Gewerkschaften [ach, die lieben Gewerkschaften, die wissen immer, was not tut], Bauernorganisationen [das ist im Schlaf diktiert: die Bauernorganisationen hat der große Wohltäter allesamt schon im Jahr der Kollektivierung zertreten], gleichwie von verschiedenen Persönlichkeiten des kulturellen Lebens [das nun klingt durchaus glaubwürdig …]» wurde die Todesstrafe für die inzwischen angesammelten «Vaterlandsverräter, Spione und unterminierenden Diversanten» wiederherbeigeschafft. (Das Viertelmaß wurde hierbei übersehen, es blieb.)
Na, und einmal wiedergewonnen, zog unsere gewohnte, heimische Halsabschneiderei alles Weitere mühelos nach sich: Das Jahr 1954 fügte den vorsätzlichen Mord hinzu; der Mai 1961 die Veruntreuung staatlichen Eigentums, auch noch die Geldfälschung und auch noch den Terror in Haftanstalten (wer also einen Spitzel umbringt und gegen die Lagerverwaltung Drohungen ausstößt); der Juli 1961 die Verletzung der Valutavorschriften; der Februar 1962 den Anschlag (die Faust geballt) auf das Leben eines Milizmannes oder freiwilligen Milizhelfers; und gleichzeitig – die Vergewaltigung; und im selben Atemzug – die Korruption.
Doch es gilt dies alles provisorisch, bis zur endgültigen Abschaffung nur. So steht’s auch heute auf dem Papier.
Und daraus ergibt sich, daß wir’s ohne Todesstrafe am längsten unter Elisabeth ausgehalten haben.
So viele sind also erschossen – zuerst Tausende, dann Hunderttausende. Wir dividieren, multiplizieren, bedauern, verfluchen. Und doch sind es Zahlen. Sie frappieren, erschüttern, werden später vergessen. Aber wenn irgendwann einmal die Angehörigen der Erschossenen alle Fotografien ihrer Hingerichteten in einem Verlag zusammentrügen und der Verlag ein Fotoalbum daraus machte, mehrere Bände davon – dann könnten wir, Seite für Seite umblätternd, aus jedem letzten Blick in die verblichenen Augen sehr vieles für das uns verbliebene Leben gewinnen. Diese Lektüre, fast ohne Buchstaben, würde ewige Spuren in unsere Herzen graben.
In einer befreundeten Familie, in der es ehemalige Häftlinge gibt, pflegt man diesen Brauch: Am 5. März, dem Todestag des Obermörders, werden auf den Tischen die Bilder von Erschossenen und im Lager Zugrundegegangenen aufstellt – einige Dutzend, soviel sich beschaffen ließ. Und den ganzen Tag ist es feierlich in der Wohnung, wie in einer Kirche, wie im Museum. Trauermusik wird gespielt, Freunde kommen, betrachten die Fotografien, schweigen, lauschen, sprechen leise zueinander; gehen ohne Abschied fort.
Wenn’s überall so wäre … Eine kleine Kerbe, eine winzige wenigstens, bliebe uns dann von all diesen Toten im Herzen.
Damit es doch nicht –UMSONST war!
Auch ich besitze einige zufällige Bilder. Seht euch zumindest diese an:
Pokrowski, Viktor Petrowitsch, erschossen 1918 in Moskau.
Schtrobinder, Alexander, Student,
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