Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
uns (und im Westen desgleichen) sehr überrascht: wirklich so früh, wirklich schon 1921?
Natürlich noch früher! Natürlich hatte sich Mihajlow geirrt. 1921 lief sie bereits auf Hochtouren, die Konzentration – und ging sogar schon ihrem Ende zu.
Wie hätte es auch anders sein sollen? Überlegen wir mal.
Haben Marx und Lenin nicht gelehrt, daß der alte bürgerliche Unterdrückungsapparat zu zerstören und an seiner Statt sofort ein neuer zu etablieren sei? Zum Unterdrückungsapparat aber gehören: die Armee (wundern wir uns denn über die Schaffung der Roten Armee Anfang 1918?); die Polizei (sie wurde noch vor der Armee zur neuen Miliz umfunktioniert); das Gericht (seit 22. November 1917); und – das Gefängnis. Warum hätte man, an der Diktatur des Proletariats bauend, just zögern sollen, eine neue Art Gefängnis zu errichten?
Denn gerade beim Gefängnis, ob alt, ob neu, wäre jedes Zaudern fehl am Platz gewesen. Schon in den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution forderte Lenin «entschiedenste und drakonische Maßnahmen zwecks Hebung der Disziplin». Und wie sie möglich machen, die drakonischen Maßnahmen – ohne Gefängnis?
Was hatte der proletarische Staat in dieser Hinsicht an Neuem zu bieten? Lenin schickte sich an, nach neuen Wegen zu suchen. Im Dezember 1917 gibt er folgendes Sortiment von Strafen zu erwägen: «Konfiskation des Vermögens … Gefängnishaft, Abtransport an die Front oder Zwangsarbeit» für «alle Personen, die diesem Gesetz zuwiderhandeln». Somit können wir feststellen, daß die den Archipel tragende Idee – die Zwangsarbeit – aufs Tapet gebracht wurde, noch ehe der erste nachrevolutionäre Monat verstrichen war.
Mehr noch: Das künftige Strafsystem nicht genau zu überdenken, erlaubte sich Lenin selbst zu der Zeit nicht, als er, von Hummeln umsummt, inmitten der heuduftenden Wiesen von Rasliw saß. Dort schon stellte er, uns zur Beruhigung, die Berechnung an, daß «die Niederhaltung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Lohnsklaven von gestern … eine so verhältnismäßig leichte, einfache und natürliche Sache ist, daß sie viel weniger Blut kosten …, die Menschheit weit billiger zu stehen kommen wird» als die vorherige Unterdrückung der Mehrheit durch die Minderheit.
(Nach Berechnungen des emigrierten Statistikprofessors Kurganow kam uns diese «verhältnismäßig leichte» Unterdrückung vom Beginn der Oktoberrevolution bis 1959 auf 66 [sechsundsechzig] Millionen Menschen zu stehen. Natürlich übernehme ich für seine Zahl keine Gewähr, bloß fehlen uns eben andere, offizielle Belege. Sobald eine amtlich bestätigte Zahl auftauchen sollte, werden die Fachleute beide Angaben unter die Lupe nehmen können.
Hier wären interessehalber auch noch andere Zahlen zum Vergleich heranzuziehen. Beispielsweise: Wieviel Mann zählte das Personal des zentralen Apparats der furchtbaren zaristischen III. Abteilung, deren Schmähung sich wie ein Strang durch die große russische Literatur zieht? Bei ihrer Gründung bestand sie aus 16 Personen, im Zenit ihrer Tätigkeit aus 45. Für die ödwinkligste Gouvernements-Tscheka wär’s noch immer eine lächerliche Ziffer. Oder: Wie viele politische Häftlinge wurden wohl von der Februarrevolution aus dem zaristischen VölkerKerker befreit? Irgendwo müßten die Zahlen zu finden sein. Wahrscheinlich saß allein in den Kresty ein gutes Hundert; da schlage man die mehreren Hundert der aus Verbannung und Katorga Heimkehrenden hinzu und obendrein die vielen, die noch in jedem Gouvernementsgefängnis schmachteten! Wie viele denn? – Wäre nicht uninteressant, dies zu erfahren. Hier die Ziffer für Tambow, dortigen brandneuen Zeitungen entnommen. Die Februarrevolution, die die Pforten des Tambower Gefängnisses sprengte, fand an politischen Häftlingen – 7 [sieben] Personen vor. Na ja, bei mehr als vierzig Gouvernements … Daß vom Februar bis zum Juli 1917 Politisches keinen strafbaren Tatbestand abgab und auch nach dem Juli nur wenige einsaßen, braucht wohl nicht nochmals erwähnt zu werden.)
Doch welch ein Mißgeschick! Die erste Sowjetregierung war eine Koalitionsregierung, ein Teil der Volkskommissariate mußte notgedrungen an die linken Sozialrevolutionäre abgetreten werden, und es fiel unglückseligerweise die Justiz in ihre Hände. Von faulen kleinbürgerlichen Freiheitsvorstellungen geleitet, hatte dieses Justizkommissariat das Strafsystem bis an den Rand des Ruins gebracht, die Urteile erwiesen sich
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