Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
es dämmert mir, daß ich mich von nun an zu wiederholen beginne, daß mir das Schreiben bald zu langweilig und dem Leser das Lesen zu langweilig werden wird, denn der weiß ohnehin, wie’s nun weitergeht.
Schließen Sie mal die Augen, lieber Leser. Hören Sie das Dröhnen der Räder? Es sind die Stolypins, die da rollen. Es sind die roten Züge, die da fahren. Zu jeder Nacht-und Tageszeit. An jedem Tag des Jahres. Und nun: Hören Sie es plätschern? Es sind die Lastkähne, die übers Wasser ziehen. Und die heulenden Motoren der Schwarzen Raben, hören Sie sie? Allezeit wird irgendwer heraus-, hinein-, von dahin dorthin gestoßen. Und dieses dumpfe Gemurmel? – die überfüllten Zellen der Peresylkas. Und dieses Heulen? – die Klagen der Bestohlenen, Vergewaltigten, Geschundenen.
Wir haben alle Arten der Verfrachtung Revue passieren lassen und haben befunden, daß sie allesamt SCHLIMMER sind. Wir haben die Durchgangsgefängnisse durchstöbert – und keine guten erspähen können. Und am Ende ist gar die letzte menschliche Hoffnung, daß sich’s mal zum Besseren wendet, daß es im Lager besser werden würde, eine falsche Hoffnung.
Im Lager wird es – schlimmer sein.
4
Von Insel zu Insel
Wie schon die Überschrift erkennen läßt, wird in diesem Kapitel der Leidensweg einsamer Gefangener von einem Lager ins andere beschrieben. Es enthält die folgende kurze autobiographische Begebenheit.
Während wir – ich, meine Mitangeklagten, meine Altersgenossen – vier Jahre lang an der Front gekämpft hatten, war hier wieder eine Generation groß geworden! So lange ist’s doch gar nicht her, daß wir die Universitätshallen bevölkerten, uns so jung vorkamen und so klug, klüger war niemand im ganzen Erdenrund! Aber was, plötzlich treten uns in den Gefängniszellen blasse hochmütige Jünglinge entgegen, und voll Staunen erfahren wir, daß die allerjüngsten und allerklügsten nicht mehr wir, sondern sie sind! Es kränkte mich jedoch nicht, ich stand nicht an, den Platz zu räumen. Seht, drückte ihre Haltung aus, wir haben das rechte Los gewählt und wolln es nicht bereuen. Ihr Stolz war mir verständlich. Man sah beinahe das Flimmern der Gefängnisaureole um die selbstgefälligen und klugen Bubengesichter.
Vor einem Monat, in einer anderen, als eine Art Krankenzimmer eingerichteten Butyrka-Zelle – ich hatte noch keinen Schritt ins Innere getan, mir einen Platz zu suchen –, stellte sich mir im Vorgefühl eines Streitgesprächs, ja, darum geradezu flehend, eine blasser Junge in den Weg, er hatte ein jüdischzartes Gesicht und hüllte sich, obwohl Sommer war, in einen abgetragenen, durchschossenen Soldatenmantel. Sein Name war Boris Gammerow. Er fragte nach diesem und jenem, bald pendelte unser Gespräch zwischen unseren Lebensläufen und der Politik dahin. Ich erwähnte aus irgendeinem Grund ein damals in unseren Zeitungen abgedrucktes Gebet des eben verstorbenen Präsidenten Roosevelt und tat es – verstand sich das nicht von selbst? – als simple Scheinheiligkeit ab.
Da zog der junge Mann plötzlich die gelblichen Brauen zusammen, die blassen Lippen wurden vor Anspannung schmal, es schien, als wollte er aufspringen.
«Wa-rum?» fragte er. «Warum wollen Sie einem Staatsmann keine aufrichtige Gläubigkeit zubilligen?»
Und Schluß, mehr hatte er nicht gesagt. Aber die Seite, von der der Angriff kam! Solches von einem 1923 Geborenen zu hören zu bekommen? … Ich hätte ihm sehr selbstbewußte Phrasen entgegenhalten können, aber meine Sicherheit war im Gefängnis bereits ins Wanken geraten, und wichtiger noch, da gibt es doch in uns ein irgendwie von den Überzeugungen getrennt lebendes reines Gefühl, das sagte mir nun ein, daß ich vorhin nicht aus Überzeugung gesprochen hatte, sondern Eingetrichtertes wiedergab. Und ich vermochte ihm nichts zu erwidern. Ich fragte bloß:
«Sie glauben an Gott?»
«Natürlich», antwortete er gelassen.
Dritter Teil
Arbeit und Ausrottung
«Nur die da können es verstehen,
wo selbst mit uns haben aus einem Napf gelöffelt.»
Aus dem Brief einer lagerentlassenen huzulischen Bäuerin
1
Die Finger der Aurora
Eos, die Rosenfingrige, von Homer so oft Erwähnte, von den Römern aber Aurora Genannte, ließ ihre zarte Berührung auch dem ersten frühen Morgen des Archipels angedeihen.
Als unsere Landsleute über die BBC vernahmen, es hätten die Konzentrationslager in unserem Lande nach Ermittlungen von Mihajlo Mihajlow schon im Jahre 1921 existiert, da waren viele von
Weitere Kostenlose Bücher