Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
als zu mild, das fortschrittliche Prinzip der Zwangsarbeit lag beinahe brach. Im Februar 1918 verlangte der Sownarkom-Vorsitzende Lenin eine Erhöhung der Zahl der Haftverbüßungsorte sowie eine Verschärfung der Strafrepressionen, und im Mai gab er, bereits zur konkreten Anleitung übergehend, als Richtlinie für die Bestrafung von Korruption ein Minimum von zehn Jahren Gefängnis plus zehn Jahre Zwangsarbeit an, was insgesamt zwanzig Jahre ergibt. Eine solche Zeitspanne festzusetzen, mochte auf den ersten Blick pessimistisch erscheinen: Sollte in zwanzig Jahren noch immer Bedarf an Zwangsarbeit herrschen? Wir indes wissen, daß sich die Zwangsarbeit als überaus lebensfähige Maßnahme entpuppte, die sich auch noch nach fünfzig Jahren nicht geringer Beliebtheit erfreut.
In den Urteilen der Tribunale hat man bereits mehrmals das Wort «Konzentrationslager» lesen können und hielt es vielleicht für einen falschen Zungenschlag, meinte, daß wir unbedacht einen erst später aufgekommenen Terminus verwendeten. Mitnichten.
Einige Tage vor dem Kaplan-Attentat, im August 1918, drahtete Wladimir Iljitsch Lenin an Jewgenija Bosch und das Exekutivkomitee des Pensa-Gouvernements (weil sie dort mit dem Bauernaufstand nicht fertig wurden): «Zwielichtige Personen [nicht schuldige, zwielichtige ] in Konzentrationslager außerhalb der Stadt einsperren.» (Darüber hinaus sei «ein schonungsloser Massenterror» durchzuführen – da gab es das Terrordekret noch nicht.)
Am 5. September dann, zehn Tage nach diesem Telegramm, wurde das Sownarkom-Dekret über den Roten Terror erlassen. Neben der Anweisung für Massenerschießungen gebot es unter anderem «die Absicherung der Sowjetrepublik gegen Klassenfeinde vermittels derer Isolierung in Konzentrationslagern».
Nun wissen wir, wo er gefunden und sogleich aufgegriffen und gefestigt wurde, der Terminus KONZENTRATIONSLAGER, einer der wichtigsten Termini des 20. Jahrhunderts: Eine gedeihliche weltweite Zukunft stand ihm bevor! Und wir wissen auch, wann es geschah – im August und September 1918. Das Wort an sich dürfte indes schon im Ersten Weltkrieg angewandt worden sein, allerdings in bezug auf Lager für Kriegsgefangene, für unerwünschte Ausländer. Hier aber galt es erstmals den Bürgern des eigenen Landes.
Über die Mehrzahl der frühesten KZs wird uns niemand mehr berichten. Lediglich aus den letzten Zeugnissen der noch nicht gestorbenen ersten KZler läßt sich etwas an die Oberfläche holen und herüberretten.
Mit besonderer Vorliebe errichteten die Behörden damals die Lager in ehemaligen Klöstern: Die boten feste und heile Mauern, Gebäude in bester Qualität – und lagen brach (die Mönche zählten nicht, die mußten ohnedies rausgeschmissen werden).
Zum Essen gab es (1921): ein halbes Pfund Brot (zuzüglich einer weiteren Pfundhälfte für die Normerfüllung), morgens und abends heißes abgekochtes Wasser, zu Mittag einen Schlag Suppe mit einigen Dutzend Körnern und Kartoffelschalen darin.
Für Abwechslung im täglichen Einerlei sorgten einerseits die Zuträger (und die Verhaftungen, die auf ihr Konto gingen) und andererseits eine Theatergruppe samt Chor. Im Saal der früheren Adelsversammlung wurden Konzerte für die Einwohnerschaft gegeben, das Blasorchester der Entzügler spielte im Stadtpark auf. Am Ende war die sich mehr und mehr vertiefende Annäherung zwischen den Einsitzenden und der Bevölkerung nicht länger zu dulden, worauf man dranging, die «Kriegsgefangenen» in die nördlichen z.b.V.-Lager zu verschicken.
Darauf gründete ja die Erkenntnis der Instabilität und mangelnden Härte der Konzentrationslager, daß sie ins zivile Leben eingebettet waren. Genau darum mußten ja die nördlichen Sonderlager her. (Die KZs wurden 1922 abgeschafft.)
Diese ganze Lagermorgenröte würde eine nähere Betrachtung – in all ihren Schattierungen – durchaus verdienen. Gesegnet, wer’s vermag. Was wir an Brosamen besitzen, reicht dazu nicht aus.
Nach Beendigung des Bürgerkriegs mußten die zwei von Trotzki aufgestellten Arbeitsarmeen, weil die darin zurückgehaltenen Soldaten murrten, aufgelöst werden, wodurch die Rolle der Lager in der Struktur der Russischen Föderation nicht geschwächt wurde, sondern vielmehr an Gewicht gewann. Gegen Ende 1920 gab es in der RSFSR 84 Lager in 43 Gouvernements. Will man der amtlichen (wenngleich geheimgehaltenen) Statistik Glauben schenken, dann waren dort dazumal 25 336 Personen plus 24 400 «Kriegsgefangene des
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