Der Architekt
hatte das Wort ergriffen. »Herr Götz ist bekannt dafür, in öffentlichen Diskussionen lautstark seine Meinung zu vertreten. Er pflegt eine kräftige Sprache, mit der er sich Eindruck verschafft. Wenn er in eine Diskussion eingreift, horcht man auf. Aber …« Der Mann trat an die Richterbank, um es dem Vorsitzenden wie unter vier Augen zu sagen: »… all das weist noch lange nicht auf eine psychische Auffälligkeit hin.« Der Gutachter hielt beide Hände offen vor sich. »Wir müssen das ganz klar festhalten: Julian Götz ist ein Mann, der mit Ende vierzig eine Menge aufgebaut hat. Er führt ein Architektenbüro an, in dem über dreißig Mitarbeiter beschäftigt sind. Er hat sich mit einer Reihe von Bauten in ganz Europa, ja, weltweit einen Namen gemacht. Ihm werden Bauprojekte mit einem Auftragsvolumen von mehreren hundert Millionen Euro anvertraut. Er ist bekannt dafür, dass er sich zeitlich und finanziell an die Vorgaben seiner Auftraggeber hält.« Der Gutachter holte Luft. »Auch über das Familienleben von Herrn Götz ist bis zum 25 . September nichts Nachteiliges bekannt geworden, und an den Schulen seiner Kinder wurde er immer als liebender Vater geschätzt.«
»Sie würden also ausschließen, dass … Oder nein, lassen Sie mich das anders formulieren«, unterbrach sich der Richter. »Sie würden also feststellen, dass es zumindest überraschend wäre, wenn man entdeckte, dass der Angeklagte sich so verhalten hätte, wie es die Spuren des Täters zeigen.«
»Das würde ich so sagen, ja.« Der Gutachter kniff die Augen ein wenig zusammen. »Kategorisch ausschließen«, fuhr er fort, »dass es – aus welchem Grund auch immer – zu einer Art Verschiebung im psychischen Haushalt des Angeklagten gekommen ist, kann ich jedoch nicht. Tatsächlich wäre ein solcher Bruch theoretisch durchaus vorstellbar, und er würde erklären, wieso Herr Götz am Abend des Fünfundzwanzigsten von seiner bisherigen Verhaltensweise radikal abgewichen wäre. Die Erfahrung lehrt uns jedoch, dass solche Brüche höchst selten auftreten. Auch wenn wir in der forensischen Psychiatrie nur Näherungswerte zur Verfügung haben, können wir sagen, dass sich ein Mensch innerhalb seines Lebens meist mit einer gewissen Gleichförmigkeit verhält. Wenn jemand früh auffällig geworden ist, wird er das meist auch später in seinem Leben wieder sein. Ist er hingegen
nicht
auffällig geworden, so wird er dies nur dann, wenn es ein einschneidendes Erlebnis gegeben hat. Bei Herrn Götz hat es ein solches Erlebnis aber, soweit wir wissen, nicht gegeben.«
Ben drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Er hatte sie schon vorhin hereinkommen sehen, als der Sachverständige für die Blutspuren noch gesprochen hatte. Sophie Voss, die Schwester der ermordeten Christine Götz. Sie hatte gleich am Eingang auf der Besucherbank Platz genommen. Sein Blick glitt kurz über ihr Profil, bevor er sich wieder nach vorn wandte.
»Was ist mit …« Richter Hohlbeck klickte auf seinem Bildschirm herum.
»Ja?« Der Gutachter verzog sein Gesicht zu einem fragenden Lächeln.
»Was ist mit der Auseinandersetzung mit der Gruppe der Freien Architekten?« Hohlbeck schien gefunden zu haben, was er gesucht hatte.
»Ich sagte es eingangs.« Der Gutachter begann, langsam auf und ab zu gehen. »Wenn es um seine Arbeit geht, kann Herr Götz sehr deutlich werden, geradezu ausfallend.«
Der Richter sah zum Staatsanwalt hinüber. »Das ist der Vorfall, auf den Sie zu sprechen kommen wollen, richtig?«
Der Staatsanwalt nickte.
»Bitte«, sagte Hohlbeck und richtete seinen Blick wieder auf den Gutachter. »Können Sie Ihre Einschätzung des Vorfalls für uns einmal zusammenfassen?«
Der Gutachter lächelte. »Es ging um ein stadtplanerisches Projekt, um die Bebauung der Heidestraße, ein Projekt zwischen Humboldt- und Nordhafen, von dem bereits mehrfach die Rede war.« Er hob die Hände. »Was die architekturspezifischen Details angeht, kann ich Ihnen leider nur schlecht Auskunft geben, da müssten Sie eventuell noch einen Fachberater …« Er brachte den Satz jedoch nicht zu Ende, sondern fuhr fort, bevor der Vorsitzende etwas sagen konnte: »Was ich aber sagen kann, ist, dass der Entwurf von Herrn Götz die Ausschreibung des Senats gewonnen hatte. Der Beginn der Bauarbeiten, die ja auch heute noch nicht abgeschlossen sind, stand kurz bevor, als eine sogenannte ›Gruppe Freie Architekten‹ vehement Einspruch gegen den Entwurf von Herrn Götz zu erheben begann. Im
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