Der Architekt
und Ben ließ sie allein die Treppe hinunterlaufen. Sie wollte sicher ungestört sein, das konnte er gut verstehen.
Er blieb an der halbhohen Brüstung stehen, von der aus er in die Eingangshalle schauen konnte, und sah ihr nach. Sie hatte die Schultern hochgezogen, diesmal trug sie keine Absätze, sondern Stoffturnschuhe, die lautlos über den Steinboden huschten. Sie durchquerte die Halle, erreichte die Schleuse. Im nächsten Moment war sie hinter der Sperrvorrichtung verschwunden, an der die Personenkontrolle durchgeführt wurde.
Als Ben kurz darauf ins Freie trat, schien die Sonne. Er blieb auf der obersten Stufe vor dem Eingangsportal stehen, legte den Kopf in den Nacken und genoss für einen Moment die warmen Strahlen. Als er die Augen wieder öffnete, sah er sie am Straßenrand stehen, die Arme mehr um sich geschlungen als verschränkt, das Taschentuch an die Nase gepresst, den Kopf geneigt. Er hatte das Gefühl, selbst aus der Entfernung ihr Zittern sehen zu können.
»Frau Voss?«
Sie hob den Kopf.
Ohne nachzudenken, lief er die paar Schritte zu ihr. »Ich möchte nicht aufdringlich sein. Kann ich … irgendwie … entschuldigen Sie, aber ich wäre dankbar, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein könnte.« Er hatte die Fingerspitzen beider Hände an die Schläfen gepresst.
Sie schüttelte den Kopf, schien sich zusammenzunehmen.
»Dort drüben ist eine Bäckerei, darf ich Sie vielleicht hinüberbegleiten? Sie sollten einen Happen essen, die Verhandlung dauert noch den ganzen Tag.«
Er konnte von schräg oben sehen, wie sich ihre Augenbrauen hinter den Brillengläsern zusammenzogen.
»Oder nehmen Sie heute Nachmittag nicht mehr an der Verhandlung teil?«
Die Brillengläser richteten sich auf. »Nein«, ihre Stimme war eine Spur tiefer, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, »nein, ich glaube nicht …«
Jetzt!
»Darf ich Sie vielleicht nach Hause fahren?«, hörte Ben sich sagen. »Mein Wagen steht gleich hier um die Ecke!«
21
»Ich will Ihnen wirklich keine Umstände machen.« Zweifelnd sah sie zu ihm herüber.
Ben beugte sich von dem Fahrersitz, auf dem er gerade Platz genommen hatte, zur Seite und streckte die Hand aus. »Im Gegenteil, es freut mich sehr, dass ich Sie ein Stück mitnehmen darf. Mein Name ist Ben Lindenberger. Ben.«
Sie nahm die Sonnenbrille ab und schüttelte seine Hand. »Sophie Voss.«
Ben zog nun auch sein linkes Bein in den Wagen und warf die Tür hinter sich zu. Dann startete er das Fahrzeug. »Sie sagen, wo’s langgeht.«
»Erst mal geradeaus.«
»Okay.«
Er scherte aus der Parklücke aus und gab Gas.
»Nein, warten Sie, halten Sie an.«
Ben nahm überrascht den Fuß vom Pedal.
»Ich … es tut mir leid, es ist Unsinn, fahren Sie an die Seite.«
Er ließ seinen alten Kastenwagen an den Straßenrand rollen. Die Fahrzeuge, die von hinten gekommen waren, fuhren an ihnen vorbei.
»Jetzt sind wir doch schon unterwegs.« Ben lächelte sie an. »Es macht mir nichts aus, wirklich.«
Sophie blickte durch die Windschutzscheibe. Ihr Profil war von einem Ebenmaß, einer Schönheit, die für Ben fast schon etwas Kaltes, Schroffes an sich hatte. Zugleich konnte er ihr jedoch ansehen, wie verstört sie war, und das milderte den Eindruck etwas.
»Ich bin ein bisschen durcheinander.« Sie schaute zu ihm.
Ben nickte. Kein Wunder, dachte er, sagte aber nichts.
Es verging fast eine Minute, während der sie still nebeneinandersaßen.
»Darf ich jetzt fahren? Oder gefällt Ihnen mein Kastenwagen nicht?«
Sophie atmete aus und lehnte sich zurück in den Sitz. Ben setzte den Blinker und spürte, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte.
»Sind Sie eigentlich einer von diesen Journalisten?« Fast zwanzig Minuten lang waren sie schweigend durch den Berufsverkehr gefahren, nachdem Sophie ihm gesagt hatte, dass sie nach Wannsee musste. »Oder was machen Sie sonst im Gerichtssaal?« Sie musterte ihn von der Seite.
»Ich schreibe an einem Buch.« Ben hatte die Frage erwartet und sich eine Antwort zurechtgelegt. »Über Moabit. Das größte Kriminalgericht Europas.« Er warf ihr einen Blick zu. »Allein die Asservatenkammer im Keller müssten Sie sich einmal ansehen.« Hörte sie ihm überhaupt zu? Sie sah wieder geradeaus.
»Das erste öffentliche Gebäude Berlins, in dem es elektrisches Licht gab«, fuhr er fort. »Ein kaiserlicher Faustschlag ins Gesicht des Arbeiters, haben sie damals dazu gesagt. Mit verborgenen Gängen, die direkt in die Untersuchungshaft
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