Der Architekt
vorgestellt hatte, dass sie riechen würde.
›Ich bring ihr die schnell‹, sagte er sich, und schon war er an der Tür, riss sie auf. Zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er die Treppe hinunter.
Die Straße lag verlassen da. Ben wandte sich nach rechts. Es war klar, dass sie nach rechts gegangen sein musste, weil sie nur dort eine U-Bahn-Station oder Bushaltestelle vermuten würde, beziehungsweise eine Hauptstraße, auf der sie ein Taxi bekommen könnte. Er hastete bis zur Straßenecke und blickte die erste Querstraße hinunter. Sie lief etwa zweihundert Meter vor ihm an dem Fabrikgelände entlang, das sich in die Straße hinein erstreckte.
»Sibylle?« Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Ben setzte sich in Trab. »Sibylle!«
Sie blieb stehen, sah sich um.
»Deine Jacke!« Er schwenkte das Kleidungsstück über dem Kopf. Aber sie schien ihn nicht verstanden zu haben. Er sah, wie sie den Kopf schüttelte, mit der Hand eine abwehrende Geste machte. Bevor er noch etwas rufen konnte, hatte sie sich wieder umgewandt und begann zu laufen – von ihm weg.
»Wart doch mal!« Er wurde schneller. Was sollte denn das? Das war doch lächerlich. Hatte sie Angst vor ihm? Er sah sie laufen, sie lief nicht schlecht.
»He.« Er rannte, so schnell er konnte, der Abstand zwischen ihnen wurde rasch kleiner. Das musste er jetzt aufklären, sonst hielt sie ihn noch für vollkommen verrückt. Schon war er bei ihr, hörte sie keuchen, griff nach ihrem Arm.
»Aaahh!!« Sie schrie aus vollem Hals, aber sie befanden sich zwischen dem Fabrikgelände und einem achtstöckigen Bürogebäude, das nachts nicht besetzt war. Erschrocken ließ er sie los, sie stolperte, rannte schon wieder.
Er setzte ihr nach. »Sibylle, ich will dir – deine Jacke!«
»Lass mich.« Jetzt sah er nur noch ihr verzerrtes Gesicht, die Haare klebten ihr an der Stirn. Er fühlte, wie seine Hand ihre Brust streifte, nahm den Geruch wahr, der von ihr ausging und den er von ihrer Jacke schon kannte, versuchte ihre Arme zu halten, die um sich schlugen – und ließ sie los.
Innerhalb von Sekunden war sie zehn, zwanzig, hundert Meter weit von ihm weg, die Angst schien sie vor sich herzutreiben. Sein Skript war auf den Bürgersteig gefallen.
Ben atmete schwer. So ein Wahnsinn! Er spürte, wie sein Herz in seiner Brust raste. Wie der Duft, der von ihr ausgegangen war, ihm zusetzte. In seinem Handrücken glühte der Moment der Berührung – die Weichheit, mit der ihre Brust nachgegeben hatte.
16
»Normalerweise ist es nicht so, aber wir hatten Glück, und in diesem Fall
ist
es so: Frau Götz, Pia und Svenja hatten jede eine andere Blutgruppe, nämlich – in dieser Reihenfolge – 0 , A und AB . Auf diese Weise mussten wir nicht erst die DNA -Auswertung abwarten, um anhand der Blutspuren rekonstruieren zu können, was zum Tatzeitpunkt in der Villa passiert ist.«
Der Sachverständige wandte sich einer Präsentationstafel zu, die er gegenüber der Verteidiger-Bank aufgebaut hatte und auf der ein Grundriss des oberen Stockwerks der Villa Götz zu sehen war. Ben schlug eine neue Seite seines Blocks auf, kritzelte mit ein paar Strichen den Grundriss hinein und sah wieder nach vorn.
»Die wichtigste Information, die wir bei der Auswertung der Blutspuren gewonnen haben, ist, dass die ältere Tochter, Svenja, im Schlafzimmer der Eltern gewesen ist, da wir von ihr dort Blut festgestellt haben.« Der Sachverständige deutete mit seinem Zeigestock auf ein Zimmer, das direkt an der Galerie lag, die sich im ersten Stock über der Halle befand. ›Schlafzimmer‹ notierte Ben an der entsprechenden Stelle in seiner Skizze.
»Aufgrund der gesammelten Fakten gehen wir davon aus, dass Svenja ins Schlafzimmer gekommen ist, weil sie etwas gehört hat und nach dem Rechten sehen wollte.« Der Sachverständige sah über seine Brille hinweg zum Richter, der jedoch keine Anstalten machte, ihn zu unterbrechen.
»Deshalb liegt es nahe, anzunehmen, dass der Täter zuerst auf Frau Götz«, wieder pochte der Sachverständige mit seinem Zeigestab auf das Schlafzimmer, »losgegangen ist. Aus dem Schlafzimmer stammt auch die Lampe, die die Beamten später in Pias Zimmer gefunden haben. Eine zweite Lampe gleichen Designs steht noch dort, im Schlafzimmer.« Er holte Luft. »Der Täter greift nach der Lampe, aus welchem Grund, kann ich natürlich nicht sagen« – wieder ein Blick über die Brille zum Richter –, »holt aus und schlägt zu. Frau Götz geht zu Boden. Sie befindet
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