Der Architekt
Auftretens, einen gutmütigen, herzlichen, aber auch etwas verunsicherten Eindruck auf Ben.
»Das ist jetzt – wie lange? – über 25 Jahre her, aber ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag«, fuhr sie fort. »Wir hatten die Feuerwehr gerufen, sie mussten die Tür gewaltsam öffnen. Das ging ganz schnell. Zwei Hiebe mit der Axt –«
»Sehr gut, Frau Janson«, stoppte der Richter vorsichtig ihren Redefluss, »lassen Sie uns versuchen, das ein wenig der Reihe nach abzuarbeiten.« Er bemerkte ein Handzeichen des Verteidigers.
»Herr Seewald?«
Der Mann mit den Koteletten beugte sich vor. »Ich kann nur wiederholen, dass wir nicht nachvollziehen können, welche Relevanz die Aussage von Frau Janson auf die Verhandlung haben könnte. Herr Götz war weder im Gebäude zu der Zeit, noch in der Stadt!«
Hohlbeck griff sich an die Nasenwurzel. »In Ordnung, Herr Seewald, das ist richtig. Wir wollen das auch nicht über Gebühr in die Länge ziehen, aber ich denke schon, dass die Aussage von Frau Janson eine gute Möglichkeit ist, uns ein besseres Bild vom Angeklagten zu machen.«
»Das uns der Sachverständige doch bereits vermittelt hat!«
Hohlbeck atmete hörbar aus. »Die Staatsanwaltschaft hat ausdrücklich darum gebeten, die Zeugin zu hören. Ich denke, das kann kein Fehler sein.«
Seewald lehnte sich zurück, beugte sich zu seiner Kollegin, die neben ihm saß, und flüsterte ihr etwas zu.
»Frau Janson.« Hohlbeck hatte sich wieder der Zeugin zugewandt. »Der Reihe nach. Wann haben Sie Herrn Götz kennengelernt?«
»Mein Sohn Caspar hat ihn nach Hause gebracht, da war Caspar mit seinem Studium noch ganz am Anfang. Und wer ihn kannte, konnte sofort bemerken, dass Julian, also Herr Götz, ihn tief beeindruckt hatte.«
Hohlbeck nickte.
»Ich erinnere mich an ein Wochenende, an dem Julian bei uns übernachtet hat, da sind die beiden Jungen fast nicht mehr aus Caspars Zimmer herausgekommen. Als ich einmal zu ihnen hineingeschaut habe, habe ich das Zimmer kaum wiedererkannt. Die Wände waren über und über mit Skizzen, Entwürfen, Zeichnungen und Bauplänen bedeckt. Vieles war nur grob angedeutet, aber als ich mir die Blätter flüchtig angesehen habe, wurde mir schnell klar, dass Julian einige der Entwürfe mitgebracht haben musste, dass sie dabei waren, Ansätze von ihm weiterzuentwickeln.« Sie blickte etwas scheu zu dem Richter, wie um zu erfahren, ob sie alles richtig machte.
»Das ist sehr gut, Frau Janson, fahren Sie fort«, ermunterte Hohlbeck sie.
»An dem Wochenende aßen die beiden Jungen auch mit uns zu Abend, und ich erinnere mich noch gut daran, wie sie versuchten, meinem Mann, der damals ja selbst als Architekt gearbeitet hat, zu erläutern, womit sie sich gerade beschäftigten. Es war vor allem Caspar, der sprach, aber an den Worten, die er wählte, an der Richtung seiner Gedanken, die er zuvor so noch nie geäußert hatte, konnten wir sehr deutlich Julians Einfluss ablesen.«
»Was für Gedanken waren das?«
»Es drehte sich alles um die Wirkung, die ein bestimmtes Gebäude, ein Raum, eine gebaute Umgebung auf jemanden hat, der sich darin aufhält. Im Grunde genommen ja etwas sehr Naheliegendes. Dass man sich in einem Wintergarten anders fühlt als in einem Badezimmer, in einer Küche anders als in einer Schule, in einer Gummizelle anders als in einem Bunker. Darum kreisten ihre Überlegungen. Welchen Effekt eine Bauumgebung auf die Psyche desjenigen hat, der sie durchläuft oder sich darin aufhält.«
Ben sah, wie sich der Verteidiger zu der Holzbrüstung umschaute, aber von Götz war nur der Rücken zu sehen.
»Dieser Ansatz«, fuhr Frau Janson fort, »hat Caspar ungemein fasziniert. Ein Raum ohne Fenster. Ein Raum, in dem die Möbel an die Decke geschraubt sind. Ein Raum ganz in Schwarz, in Weiß, mit Spiegeln verkleidet. Ganz simple Maßnahmen, die jedoch auf die Stimmung desjenigen, der sich in dem Raum befindet, eine erhebliche Wirkung haben. Ein Raum aus Eis. Ein Raum voller Schmutz. Ein Raum, dessen Wände mit Klebstoff beschmiert sind. Jedesmal ist es, als würde sich der Besucher in einer vollkommen anderen Welt aufhalten, die einen großen Einfluss auf seinen geistigen Zustand hat. Und dann haben sich die beiden in ihren Überlegungen natürlich nicht nur auf einzelne
Räume
beschränkt. Der nächste Schritt bestand darin, sich ganze
Bauten
zu überlegen, in denen sozusagen die Psyche des Besuchers gezielt bearbeitet wird. Bestes Beispiel: Das Labyrinth. Eine Struktur,
Weitere Kostenlose Bücher