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Der Architekt

Der Architekt

Titel: Der Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Winner
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die Halle zog. Weiß, grau, grün und dunkelblau schoben sich die unterschiedlichen Flächen ineinander. Das Deckenlicht, das sich nach oben in den Himmel hineinwölbte, die gewaltige Fensterfront, die sich über zwei Stockwerke hinweg erstreckte und den Blick in den hellgrünen Garten hinaussog: eine Geometrie der Ebenen und kühnen Raumbeschränkungen, in der als Kontrast nur links in der Ecke der Galerie eine seltsame Bronze auf einem makellosen weißen Sockel stand. Eine Art Kugel, die an einer Stelle geborsten zu sein schien, so dass man in ihr Inneres blicken konnte. Ben trat an die Skulptur heran, ließ die Hand über die holprige runde Oberfläche gleiten und sah an der Stelle, an der sie aufgeplatzt war, in ihr Inneres. Bronzene Schläuche und Kabel, Leitungen und Rohre schlangen sich ineinander.
    ›An dieser Kugel muss er auf seinem Weg ins Schlafzimmer vorbeigegangen sein.‹
    Die Tür rechts neben der Kugel war geschlossen. Die Klinke wirkte wie maßgefertigt und beinahe überlang gezogen.
    Ben bemerkte nicht einmal, dass er sie berührte. Dann stand er in der Türöffnung und blinzelte.
    Das Schlafzimmer war ganz in Weiß gehalten. Auch hier gaben zwei überdimensionale Fenster den Blick nach draußen frei. Durch sie hindurch waren die Straße zu sehen, die an dem Haus vorbeiführte, und die Tannen, die das Nachbargrundstück abschirmten. Zwei Betten, zwei Schränke, zwei Teppiche. Das ganze Zimmer war perfekt symmetrisch eingerichtet. Nur ein Möbelstück wich davon ab. Die Messinglampe auf einem der beiden Nachttische. Zu ihr gab es kein Gegenstück.
    Für einen Moment verschlug es Ben beinahe den Atem. Es kam ihm so vor, als würde eine unbezwingbare Kraft von der Lampe ausgehen. Als würde er geradezu gezwungen sein, seinen Arm emporzureißen. Als würde sein Arm mit der Lampe zu einem gewaltigen Instrument verschmelzen. Dann sah er sich zuschlagen, und ihn durchzitterte regelrecht der Impuls, der von der Spitze der Lampe ausging, als sie auf den Boden aufprallte. Der Schock pflanzte sich durch seinen Arm hindurch fort. Da hatte er die Hand schon wieder oben, berauscht von der Geschwindigkeit, mit der sie die Luft durchschnitt, und er gierte bereits nach dem nächsten Schlag.
    Ihm brach der Schweiß aus. Seine Hände wirkten wie von Blut verklebt. Er sah ihren Körper zu seinen Füßen liegen. Die Augen abgewandt, der Kopf aufgeschlagen. Ihre Hand lag mit der Innenseite nach oben auf dem weißen Teppich. Das ganze Zimmer schien sich zu verschieben, zu drehen, einzurollen. Plötzlich fühlte er einen Blick von der Seite und wandte den Kopf. In der Tür stand ein Mädchen. Ihr Mund war weit aufgerissen, aber es kam kein Laut daraus hervor. Bens Hosen, sein Hemd, seine Hände und Schuhe tropften rot in das Weiße des Raumes. Er spürte, wie er nach dem Mädchen griff, wie unsagbar dünn und zerbrechlich ihr Handgelenk war. Es schien unter dem Druck seines Griffs mehrfach in sich zu brechen …
     
    Als Ben zurück in die Küche kam, zitterten seine Beine, und durch sein Blickfeld schlängelten sich durchsichtige Würmer. Sophie stand mit einer dampfenden Tasse Tee in den Händen am Küchentisch und sah ihn forschend an.
    Er spürte, wie ihm die Verlegenheit ins Gesicht geschrieben stand. »Entschuldigen Sie, ich wollte wirklich nicht so aufdringlich sein. Ich hätte längst losgemusst.«
    Ihr Blick blieb prüfend. »Viel Glück mit Ihrem Buch.«
    Er nickte. Es hätte so viel zu sagen gegeben. Aber ihm fiel nicht ein, wie er es hätte ausdrücken sollen. »Es tut mir leid«, stotterte er und drehte sich um. Ließ sie regelrecht stehen.
     
    Draußen war es milder, als er gedacht hatte. Sein Pullover und der gefütterte Regenmantel kamen ihm viel zu eng und schwer vor. Ben riss sich den Mantel von den Schultern, schob die Ärmel des Pullovers weit nach oben, während er die Stufen zur Gartenpforte hinunterschritt.
    Seine Hände waren noch immer verklebt. Schweißverklebt.
    Langsam ließ das Entsetzen über die Bilder nach, die er in dem Schlafzimmer eben vor sich gesehen hatte.

24
    »Ihr Sohn hat gemeinsam mit Herrn Götz studiert.«
    »Ja.«
    »Und Sie waren dabei, als er eingeliefert wurde.«
    »Ja, das ist richtig.«
    Der neue Prozesstag hatte gerade begonnen. Ben konnte die Frau, mit der der Richter sprach, nur von hinten sehen, aber er schätzte sie auf Anfang siebzig. Sie hatte die beige Jacke, die sie trug, nicht abgelegt, war ein wenig dicklich und machte, durch die Art ihres Antwortens und

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