Der Architekt
dem eine Wand in einen Bogen mündete oder ein Fenster in einen vorkragenden Träger.
Sophie hatte die Eingangstür aus Mahagoniholz hinter ihnen zufallen lassen, und sie waren aus dem Eingangsbereich in eine Halle gelangt, von der sofort klar war, dass sie das Herz des Hauses bildete. Die gut zwanzig Meter lange Hauptwand der Halle war in regelmäßigen Abständen von großen, über zwei Stockwerke reichenden und auf einen gepflegten Garten hinausgehenden Fenstern durchbrochen. An den Seiten der Halle führten Durchgänge in weitere Zimmer, deren Böden mit Marmor ausgelegt waren. Die Prächtigkeit der Halle, die Wucht des Raumeindrucks wurde aber nicht nur durch die Größe und die wohlproportionierten Formen der Baustruktur hervorgerufen, sondern auch durch das raffinierte Farbzusammenspiel, bei dem sich das Weiß der Wände und das Anthrazit des Bodens, der helle Ton einzelner Holzelemente und das Dunkelrot eines eingelassenen Frieses in ihrer Wirkung gegenseitig verstärkten.
»Das ist eines der Kapitel in meinem Buch, die mir am meisten Freude bereiten«, meinte Ben wenig später, als er an dem polierten Eichentisch in der Küche lehnte, in die Sophie ihn geführt hatte. »Dieser Bau – Moabit. Manche Gebäude entwickeln, wenn man sich erst mal mit ihnen beschäftigt, so etwas wie eine ganz eigene Lebendigkeit, oder? Ist Ihnen das auch schon mal aufgefallen? Sie studieren doch Architektur, richtig?«
»Ein Eigenleben? Ich weiß nicht … Ist das nicht übertrieben?« Sophie hantierte mit einem stählernen Wasserkocher, um einen Tee zuzubereiten, und schob den Stecker des Kochers in die Steckdose. »Aber wenn Sie Julian fragen, ob Sie, was weiß ich, eine Lampe hier in dem Haus ändern dürfen, wird er wahrscheinlich etwas Ähnliches erwidern.«
Als hätte sich bei dem Wort »Lampe« ein Schatten auf sie gelegt, verstummte sie.
Ben beschloss, einfach darüber hinwegzureden. »Auch die Möbel, die ganze Einrichtung – das ist alles von Götz?«
»Alles.« Sie lächelte. »Die Täfelung, das Bodenmuster, die Gartengestaltung, die Türklinken – meist Unikate, die er eigens für das Haus entworfen hat. Er meint, dass das alles zum Raumeindruck doch dazugehöre. Ich glaube, es gibt nicht viele Häuser, bei denen das so radikal umgesetzt worden ist wie hier. Die Tapetenmuster, die Armaturen im Bad, die Bettbezüge, das Besteck«, sie deutete hinter sich, »der Wasserkocher, die Suppenkelle, der Rasenmäher …«
»Buchstäblich alles.« Ben grinste. »Es gibt nichts, was er nicht entworfen hat.«
»Na ja, ein paar Buchumschläge nicht …« Sie überlegte. »Das Telefon –«
»Genial.« Ben war begeistert. »Und wie fühlt es sich an, wie lebt es sich in so einer durchgestylten Welt?«
Sophie zögerte. »Ja, schön.« Sie dachte nach. »Ich mag Julians Geschmack sehr.«
»Allein die Farben sind phantastisch.«
»Natürlich entsteht durch die Absolutheit, mit der das hier durchgeführt worden ist … Es erinnert manchmal an eine Monokultur.«
»Als würde man immer das Gleiche essen?«
»So etwas gibt es doch, oder? Das habe ich mal gehört: Ein Menü von einem Sternekoch, bei dem alle Gänge Speisen aus dem immer gleichen Produkt sind. Aus Kürbis oder so ähnlich.«
»Klingt, als würde es nicht wirklich schmecken.«
Sophie drehte sich um, das Wasser kochte. Sie nahm zwei Tassen aus dem Schrank und hielt ein paar Teebeutel hoch. »Die sind auch nicht von ihm gestaltet.« Sie versenkte die Beutel in den Tassen, goss das siedende Wasser darüber.
Ben blickte durch die Tür, durch die sie gekommen waren.
»Haben Sie … eigentlich auch eine Toilette hier?«
»Die kleine Tür in der Halle gleich rechts.«
Als er zurück in die Eingangshalle kam, fiel sein Blick auf die Treppe, die neben dem Durchgang zur Haustür auf die Galerie hinaufführte.
›Hier muss er hoch gegangen sein.‹
Im nächsten Augenblick stand Ben an der Treppe und blickte nach oben. Jede Kante in dem Haus schien wie mit dem Messer geschnitten. Die Treppe bestand lediglich aus einer Reihe von schlichten, in der Wand verankerten Steinstufen. Das Rechteck, durch das hindurch sie in die Galerie mündete, zeichnete sich hellgrau und scharf über Bens Kopf ab. Die Flächen und Wände waren von einer geradezu beängstigenden Makellosigkeit. Kalt schmiegte sich das Geländer an seine Hand.
Dann war er oben.
Eine gläserne Balustrade umlief die Galerie, die sich im ersten Stock an den drei fensterlosen Wänden rings um
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