Der Arzt von Stalingrad
Steppjacken, auf die geflickten Hemden, die nach Schweiß und Kohlsuppe stanken.
Die Stille Nacht …
Die Kerzen knatterten in das Schluchzen der Männer. Der Pastor segnete die gesenkten Häupter …
»… und gebe euch Frieden. Amen!« sagte die zittrige Stimme.
Dann war Schweigen. Langes, langes Schweigen.
Die Verdammten waren in der Heimat.
Die Herzen sprachen mit den Frauen und Kindern, mit den Müttern, Vätern, Brüdern, Bräuten … Sie weinten, und sie versprachen Hoffnung. Wir werden kommen, wir werden alle wiederkommen … glaubt es … glaubt es doch … Eure Liebe ist unsere Stärke in der Einsamkeit …
In der Stille bauten ein paar Plennis den Altar ab. Ein Vorhang aus billigem Stoff senkte sich vor die Bühne.
Langsam, einzeln, setzten sich die Gefangenen. Ihre Augen waren noch verschleiert, noch jenseits der Wolga. Nur langsam kehrten die Seelen zurück …
Das Lagerorchester stimmte die Instrumente. Der Dirigent war nervös und schimpfte leise. Hinter der Bühne rannte der Regisseur herum und ermahnte noch einmal die Darsteller, seine Anweisungen für besonders kritische Stellen nicht zu vergessen. Der Komponist saß in der Ecke und hatte nichts zu sagen … wie immer beim Theater. Von den Textautoren sprach überhaupt keiner.
Worotilow wandte sich an Dr. Böhler. »Erstaunlich, was die Männer in der kurzen Zeit geleistet haben! Nach der Arbeit, mit der halben Portion Essen! Eine Operette, ein Orchester, Kulissen, eine Bühne …«
»Es ist der sichtbare Wille zum Leben!«
»Vergessen Sie nicht, daß er von Moskau mit der Verfügung vom Kulturnaja shisnj gefördert wird.« Worotilow lächelte schadenfroh. »Sie werden sich nicht beschweren können, wenn Sie einmal zurück nach Deutschland kommen. Ich weiß, daß es in den deutschen Gefangenenlagern unseren russischen Brüdern schlechter ging! Dort zeigte sich der Deutsche als Barbar!«
»Wollen wir darüber streiten?« fragte Dr. Böhler. »Jetzt? Mir ist viel zu heimatlich zumute, um mit Ihnen über diese Dinge zu diskutieren. Wenn Sie wüßten, wie es jetzt in uns aussieht …«
Worotilow antwortete nichts. Er wandte sich Kommissar Kuwakino zu, der still und merkwürdig traurig neben ihm saß. Der Gedanke an seine Mutter erschütterte ihn in diesem Augenblick tief. Sein Weg war durch die Partei vorgezeichnet, es gab kein Zurück mehr, nur noch ein Vorwärts, das ihn hintrieb in ein Leben, das er nicht zu bestimmen wagte. Als ihn Worotilow leise anstieß, zuckte er zusammen und kroch in sich, als habe ihn jemand mit dem Kolben in den Nacken gestoßen.
»Was haben Sie, Genosse Major?« fragte er leise.
»Ich wollte Sie nur etwas fragen: Haben Sie schon etwas Neues von Dr. von Sellnow gehört?«
Kuwakino wurde blaß. »Lassen Sie mich in Ruhe!« zischte er wütend. Seine Augenwunde brannte.
Janina Salja saß neben Dr. Schultheiß. Sie sah den mächtigen Rücken des Majors vor sich, aber sie empfand nichts bei diesem Anblick, keine Erinnerung, kein Schaudern bei dem Gedanken an seine früheren brutalen Umarmungen. Sie saß Hand in Hand mit Jens und schaute auf die Bühne, deren Vorhang sich geheimnisvoll bauschte. Dann rauschte die Ouvertüre auf – eine lustige, flotte Musik im Tanztempo, eine Erinnerung an Peter Kreuder und Franz Grothe. Die Trompete Fischers schmetterte … einmal daneben, aber das nahm man nicht so genau. Karl Georg bediente das Schlagzeug mit Liebe und Hingabe. Leutnant Markow lächelte vor sich hin. Die Trompete! Sein Erbfeind! Aber es klang gut, was die deutschen Schweine da spielten, flott, lustig … es ging in die Beine und ins Ohr. Es war eine moderne Melodie, eine Bourgeoisie-Angelegenheit, wie man in Moskau auf der Politschule sagen würde … aber es war schön. Verflucht noch mal! Es gab noch etwas anderes als Dienst und Doktrin! Die Kalmücken und Mongolen im Hintergrund grinsten zufrieden. Bascha stand mit Michail Pjatjal hinter der Theke mit einer improvisierten Kantine, wiegte die starken Hüften und ließ die dicken Brüste wippen.
Nach der Ouvertüre zogen zwei Gefangene den Vorhang auf. Eine ländliche Gegend war auf der Bühne aufgebaut … Bäume, eine Bank, eine weite, deutsche Landschaft, gemalt auf einen Rundhorizont. Auf der Bank saß der gefangene Kammersänger und schien auf jemanden zu warten. Er zeichnete mit einem Stock Figuren in den Sand und sang dabei.
Die Operette dauerte ohne Pause anderthalb Stunden … sieben verschiedene Bilder, zündende Melodien, flotte Texte … die
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