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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Möglichkeit, sich zu rehabilitieren. Zunächst vor Gott! Denn daß es ihn gab, zu diesem Eingeständnis war Sellnow bereit. Und daß seine Lebensauffassung nicht die richtige war, das hatte er schon während seines Zusammenlebens mit Alexandra Kasalinsskaja in Stalingrad eingesehen …
    Plötzlich, in dieser entscheidenden Nacht seines Lebens, erinnerte er sich der Karte seiner Frau. Er erhob sich, suchte in der Hosentasche, in den Taschen des Jacketts, in dem kleinen Gepäck … sie war nicht mehr da, er hatte sie verloren … die erste und einzige Karte nach vier Jahren Schweigen. Und – das glaubte er zu wissen – es war auch die letzte Karte, die er von Luise erhielt. Schuldbewußt, diese Karte nicht wie ein Kleinod verwahrt zu haben, legte er sich wieder nieder und starrte in die Dunkelheit.
    »Verzeih mir, Luise«, sagte er leise.
    Sein Obermann drehte sich im Bett herum. »Wat quatschste?«
    »Nichts. Schlaf, Peter.«
    »Dann halt de Fresse.«
    Sellnow mußte trotz der Erinnerungen, die ihm die Kehle abschnürten, lächeln. Über ihm lag Peter Buffschk. Sein Name brachte ihm viel Spott ein. Er war ein mehrfacher Familienvater vom Wedding, Maurer von Beruf, und ins Straflager gekommen, weil er während der Bauarbeiten Salz in den Beton goß, so daß man sich ausrechnen konnte, daß er sich in einigen Jahren zersetzt haben würde und der Bau einfiel. Ein Posten hatte das gesehen. Man hatte Peter Buffschk mitgenommen, ihn halb totgeschlagen und dann nach 53/4 gebracht, wo er nicht kleinzukriegen war und den Posten eines Kalfaktors übernahm. Es gab nichts, was Buffschk nicht im Rahmen des Möglichen besorgen konnte.
    »Du, Doktor?« fing Peter Buffschk wieder an. »Schläfste schon?«
    »Nein.«
    »Ick ha jestern beim Uffräumen in der Wachstube Tabak jeklaut und 'n Fetzen von der Prawda. Wülste 'ne Zijarette? Und 'ne Scheibe Brot ha ick ooch für dich uffjehoben.«
    »Gib her, Peter«, sagte Sellnow. Er streckte die Hand aus. Eine Zeitungspapierzigarette mit Machorka und eine dünne Scheibe alten, trockenen Brotes glitten in seine Hand.
    »Friß leise«, sagte Buffschk hinter der Hand, »damit's die andern nich hören …«
    Mit einem tiefen Gefühl der Zuneigung für diesen Klotz von Mann legte sich Sellnow zurück und kaute an dem Stück Brot. Die Zigarette glomm zwischen seinen dünnen Fingern.
    »Der Mensch ist ein Wunder Gottes«, dachte er. »Man wird es nie ergründen …«
    Vor der Holzwand heulte der Sturm. Die Wolga ächzte unter dem Eis. Wimmernd lagen die Wölfe am doppelten Zaun. Es gab keinen Himmel und keine Erde mehr … nur noch Heulen und Brausen.
    Am nächsten Morgen brannte der Leib Sellnows wie Feuer.
    Er schrie. Er schlug mit den Armen um sich. Schaum stand auf seinem Mund.
    Die Scheibe Brot, die Buffschk irgendwo gefunden hatte, war für die Wölfe gedacht gewesen.
    Sie war vergiftet.
    Im Lager 5110/47 gab es einen stillen Abschied. Kommissar Wadislav Kuwakino verließ die Barackenstadt und kehrte nach Moskau zurück. Sein Abschiedsgesuch war bei dem Politbüro eingegangen, und nun rief man ihn zurück, um ihn persönlich über die Vorfälle im Lager Stalingrad zu hören. Er nahm einen ängstlichen Abschied, er kannte die Spielregeln zu genau, um nicht zu wissen, daß wenig Hoffnung bestand, aus dem Gebäude in der Nähe des Kreml je wieder herauszukommen – es sei denn als Sträfling der Lubjanka, aus der kein Weg mehr zurück in die Sonne führt.
    Kuwakino wandte sich Dr. Böhler zu. Sein Blick war traurig. Unter der schwarzen Augenklappe näßte die Wunde.
    »Leben Sie wohll, Doktor …«, sagte er leise. »Ob Rettung des Lebens gutt, ich weiß nicht …«
    Der Kommissar blickte auf den Wagen, der vor der Kommandantur hielt. Ein dick vermummter Fahrer hockte hinter dem Steuer und blies sich in die Handflächen.
    »Ich habe nach Moskau gemeldet«, sagte Kuwakino wie im Selbstgespräch zu Worotilow, »daß Sie an den Vorfällen im Lager nicht schuldig sind. Es war nur die Auflehnung der Gefangenen gegen die mangelnde Versorgung, für die die Zentralstelle in Moskau verantwortlich ist. Man wird Schuldige finden – Sie sind es nicht!«
    Worotilow wurde rot. Er trat einen Schritt vor und wußte nicht, ob er Kuwakino die Hand geben sollte.
    »Genosse Kommissar …«, sagte er matt.
    Dr. Kresin war ernst geworden. »Warum haben Sie das getan?« fragte er hart. »Ich habe Sie für das größte Schwein gehalten, das mir bisher begegnet ist. Jetzt zwingen Sie mich, dieses Urteil zu

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