Der Arzt von Stalingrad
Kontakt aufnehmen. Wegen Fluchtgefahr und Beihilfe. Ich vertraue Ihnen, Sie machen davon keinen Gebrauch.«
»Solange ich noch kranke Kameraden in meinem Lazarett habe, können Sie völlig unbesorgt sein.«
»Das ist gut!« Worotilow sah ihn groß an. »Ich beurlaube Sie besonders gern. Kislew vergibt auch Aufträge an die Straflager. Wenn Sie Glück haben, erfahren Sie etwas über Doktor Sellnow.«
Dr. Böhler starrte Worotilow an. Der lächelte, als habe er einen Witz gemacht.
»Das werde ich Ihnen nie vergessen, Major«, sagte Dr. Böhler mit belegter Stimme. »Sie sind ein verdammt feiner Kerl. Schade, daß wir zwei verschiedene Uniformen tragen …«
Der Major hob die Hand. »Wenn Sie mein Vaterland beleidigen, schlage ich Ihnen ins Gesicht!«
Dr. Böhler senkte lächelnd den Kopf. »Ich weiß, ich weiß – es dauert seine Zeit, bis eine Schlange sich häutet …«
Sergej Kislew rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Mit flehenden Augen sah er Worotilow an. »Was sagt er?« fragte er.
»Er will mit Ihnen gehen.« Worotilow steckte die Hände in die Taschen seiner Uniformhose. »Er will keine Bezahlung, der deutsche Arzt, er will nur wissen, ob Sie 53/4 kennen.«
Sergej Kislew schob die Unterlippe vor, sein Gesicht wurde verschlossen, steinern.
»Kenne ich nicht.«
»Nishnij Balykleij?«
»Liegt an der Wolga. Aber da ist kein Lager.«
Worotilow nickte. Er lehnte sich gegen die Kante des Schreibtisches und betrachtete Kislew gemütlich. »Natürlich – da ist kein Lager. Es gibt ja in Stalingrad auch keinen kranken Sascha Kislew.«
Sergej Kislew erbleichte. »Was soll das heißen?« stotterte er. »Sie wollen den Arzt nicht mitgeben? Der Junge stirbt mir! Er bricht schon Blut und ißt nichts mehr!«
»Dann solltet Ihr weniger fett fressen, Genosse Kislew.«
Der Bauunternehmer nickte schwach. »In Nishnij Balykleij arbeiten siebzehn Mann für mich. Sie machen Holzflöße für die Wolga.« Er sah Worotilow furchtsam an. »Aber ich darf nichts sagen, Genosse. Es kostet mich den Kopf, wenn man erfährt, daß ich etwas verraten habe!« Er erhob sich mit müden Bewegungen. »Geht der deutsche Arzt jetzt mit?«
»Ja. Sie müssen ihn aber am Abend wieder ins Lager bringen! Wenn er bei einer plötzlichen Kontrolle der Division fehlt, ist die Hölle los! Ich werde von einer ›Ausleihung‹ nichts wissen …«
»Natürlich nicht, Major«, Sergej Kislew verbeugte sich mehrmals dankend. Die alte russische Unterwürfigkeit brach durch. »Aber wenn mein Sascha sehr krank ist …«
Worotilow wandte sich an Dr. Böhler. Er sprach jetzt wieder deutsch. »Können Sie gleich mitfahren, Doktor? Oder haben Sie dringende Fälle?«
»Es geht. Dr. Schultheiß wird meine Kranken gut versorgen.«
Worotilow nickte ihm zu. »Wenn Sie Kislews Sohn retten, können Sie von ihm haben, was Sie wollen. Vor allem erträgliche Arbeitsbedingungen für Ihre Kameraden.«
»Ich werde daran denken, Major.«
Als Dr. Böhler die Kommandantur verließ, sah ihm Worotilow mit zusammengekniffenen Lippen nach. »Diese Deutschen!« knurrte er. »Man hätte sie doch ausrotten sollen!«
Dr. Böhler wurde in das Militärhospital gebracht, in dem der Kranke lag, und ohne besondere Förmlichkeiten an das Krankenbett geführt. Es erwies sich, daß die Sorge Kislews um seinen Sohn mehr als berechtigt war. Sascha, ein einundzwanzigjähriger Rotarmist, litt seit einem Jahr an Magenbeschwerden. Er wurde nie durchleuchtet, war ohne jegliche Bedenken bei den Musterungen tauglich befunden und zum Militär eingezogen worden.
Bald nachdem er seinen Dienst angetreten hatte, bekam er eines Abends Schwindel- und Übelkeitsgefühl und erbrach. Das Erbrochene war stark mit Blut durchsetzt. Er wurde plötzlich bewußtlos und mit Kollaps ins Truppenlazarett eingeliefert.
Das war vor drei Wochen gewesen.
Diesen Bericht gab ein junger russischer Assistenzarzt an Böhler. Er war wortkarg, kam aber gehorsam dem Befehl nach, dem deutschen Arzt zur Verfügung zu stehen.
»Behandlung?« fragte Böhler ebenso knapp.
»Jeden zweiten Tag Bluttransfusion, seit der Aufnahme etwa vier Liter Blut«, antwortete der Russe.
»Und bei der Aufnahme?« fragte Böhler weiter.
»Bei der Aufnahme erhielt Patient fünfhundert Kubikzentimeter gruppengleiches Blut und kam zu sich«, las der Russe vom Krankenblatt ab.
»Sonst haben Sie nichts unternommen?« erkundigte sich Böhler gewissenhaft.
»Es bestand eine innere Blutung«, sagte der russische Arzt gereizt. »Sie wurde
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