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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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durch Bluttransfusion gestillt. Das ist das beste Mittel. Es hat sich tausendfach bewährt.«
    »Sicherlich«, sagte Böhler beschwichtigend, »ich informiere mich nur. Wie ist denn jetzt das Blutbild?«
    Der Russe sah ins Krankenblatt. »Bei der Einlieferung fünfzig Prozent Hämoglobin und zweikommaneun Millionen rote«, las er vor, »acht Tage später vierzig Prozent Hämoglobin und zweikommavier rote, acht Tage später: sechsunddreißig Prozent Hämoglobin und zwei Millionen rote. Augenblicklicher Status: Hämoglobin zwanzig, rote einskommaeins Millionen.«
    Böhler sagte nichts. Er unterdrückte mit Mühe sein Entsetzen. Zwanzig Hämoglobin statt hundert, nur noch ein Fünftel des normalen Gehalts, und eine Million rote Blutkörperchen im Kubikmillimeter statt fünf Millionen … der Kranke war praktisch völlig ausgeblutet. Und man hatte nichts unternommen.
    Er wandte sich dem Kranken zu, der ihn ansah, ohne ihn zu sehen. Er war verfallen, die Gesichtsfarbe fahl wie das Leintuch, auf dem er lag, die Augäpfel gelblich verfärbt. Böhler fühlte den Puls. Er schätzte ihn auf hundertzwanzig. Der Kranke atmete nur wenig schneller als normal. Er war dazu schon zu schwach, und sog bei jedem Zug nur wenig Luft in die Lungen. Seine Lippen zeigten keinerlei Röte mehr.
    Böhler ließ sich die anderen Laborbefunde vorlesen, die recht exakt und vollzählig durchgeführt waren. Eiweiß im Urin stark positiv, im Sediment rote Blutkörperchen, viele Zylinder, Nierenzellen, Teerstuhl. Dieser letzte Befund zeigte deutlich, daß eine schwere innere Blutung bestand, die offensichtlich durch die Transfusion nicht zum Stehen gekommen war. Böhler tastete den Leib des Patienten ab. Wenn er an eine bestimmte Stelle über dem Nabel geriet, stöhnte der Kranke tief auf vor Schmerz und machte schwache abwehrende Bewegungen.
    Sein Schicksal ist besiegelt, dachte Böhler schematisch. Sein Lehrer fiel ihm ein, der alte Professor Sandtmann, der davor gewarnt hatte, einen Patienten mit Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür zu operieren, wenn der Sitz des Geschwürs nicht genau bekannt war und der Patient eine schwere Blutung durchgemacht hatte.
    Und dieser Kranke war noch niemals geröntgt worden. Zweifellos hatte er ein Zwölffingerdarmgeschwür.
    Böhler erhob sich von der Bettkante, auf der er bei der Untersuchung gesessen hatte. Er blickte auf Sergej Kislew, der am Fußende stand und ihn gespannt anstarrte. Böhler konnte sich denken, daß die Ärzte den Vater erst rufen ließen, als sie den Kranken aufgegeben hatten. Kislew sah ihn mit brennenden Augen an. »Gutt, Gospodin Doktor?« fragte er.
    Böhler amüsierte sich über das Gesicht des russischen Arztes bei dieser Anrede. Gospodin – das hieß ›Herr‹. In der UdSSR sprach man nur noch von ›Genosse Doktor‹, das Wort Herr war streng verpönt.
    Er antwortete nicht, sondern trat zum Waschtisch und begann, sich sorgfältig die Hände zu waschen. Dann erst wandte er sich um. Immer noch starrte ihn Kislew fragend an.
    »Nix gutt?« stotterte er.
    Böhler nickte langsam. »Nix gutt!«
    Sergej Kislew schlug die Hände vor die Augen und lehnte sich gegen die Wand. Was er vor sich hin stammelte, verstand Böhler nicht. Aber am Klang erkannte er erschreckt, daß der Kommunist und Menschenschinder Sergej Kislew betete …
    Dr. Böhler wandte sich ab und verließ den Raum. Er ging die Treppen hinunter und war noch nicht unten angelangt, als Kislew ihn einholte. Aus dem Redeschwall entnahm Böhler soviel, daß der Mann wünsche, er solle ihn begleiten. Wider Willen tat ihm Kislew leid, und er folgte ihm. Draußen wartete ein Privatwagen mit einem Chauffeur. Er brachte sie in wenigen Minuten in Kislews Haus, eine hübsche Villa in einem gepflegten Garten.
    In der großen Diele setzte sich Böhler in einen weichen Sessel und lehnte sich weit zurück. Sein Wirt verließ ihn und bat ihn wortreich und mit vielen Gesten, einen Augenblick zu warten.
    Ein Sessel! Ein weicher, gepolsterter Sessel. Teppiche. Tapeten an den Wänden. Türen aus Kirschbaum, ein runder geschnitzter Tisch. Kristall in den eingebauten Wandschränken …
    Böhler atmete die reine Luft, den Geruch eines leichten Parfüms, der über allem lag …
    Er schloß die Augen. Köln-Lindenthal … eine kleine Villa mitten im Grünen, in der Nähe des Stadtwaldes. Im Garten auf der Rasenfläche war ein Tischtennis aufgebaut … Er sah sich mit Margot, seiner Frau, spielen … sie hatte einen guten Schlag und jagte ihn hin und her.

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