Der Arzt von Stalingrad
der Tür. Eine Stunde lang. Dann brachen die beiden MWD-Offiziere auf. Sie gingen an ihm vorbei und überließen es ihm, mitzukommen. Wie ein Hund trottete er durch den tiefen Schnee hinter ihnen her. Am Tor standen die beiden SS-Ärzte. Als er an ihnen vorbeikam, nahmen sie stramme Haltung an und riefen: »Gute Fahrt, Herr Major!«
Blaß und beschämt stieg er in den Wagen und sah sich nicht mehr um.
Vor ihm dehnte sich die weite, weiße Fläche. Es schneite wieder. Die Wolga schälte sich aus dem wirbelnden Vorhang. Ein breites Band in einer Senke – gefroren und mit aufgetürmten, übereinandergeschobenen Eisschollen. Auf ihnen sah er schwarze, vermummte Gestalten mit Spitzhacken. Sie standen im Schnee und hieben in das Eis. Laut hallten ihre Schläge durch die Stille.
Am Ufer pendelten zwei Posten mit Maschinenpistolen. Major Wilhelm Passadowski sah zur Seite – zur anderen Seite, in den wirbelnden Schnee. Er wollte nicht vergessen, daß er Kommunist war …
Dr. Werner von Sellnow wurde noch einmal gerettet. Die heimliche Pflege der zum Tode verurteilten SS-Ärzte brachte ihn wieder auf die Beine. Vorgebeugt, ein alter Mann, schlich er durch das Lager 53/4 und wurde mit leichteren Arbeiten beschäftigt. Er durfte die Kommandantur putzen und den Boden mit einer kleinen Stahlbürste fast weiß scheuern. Der Leutnant schrie ihn an, wenn er einen dunklen Fleck auf den Dielen fand, und so schrubbte er jeden Tag ächzend und mit schmerzendem Kreuz, und fiel am Abend wie zerschlagen auf seinen muffigen, harten Strohsack.
Aber er lebte! Er atmete die eisige Luft des russischen Winters, der für ihn keine Schrecken mehr barg. Er kannte ihn in allen Spielarten. Im dünnen Sommermantel war er von Stalingrad vier Wochen durch den Schneesturm gezogen, ehe er ein festes Lager fand. Es war ein Todesmarsch … 95.000 Gefangene machte der Russe bei Stalingrad … knapp 10.000 kamen in den Lagern an … Die anderen 85.000? Nitschewo … Sie waren verschwunden in Schnee und Eis, begraben an den Ufern der Wolga … im Frühjahr tauten sie auf und verpesteten die Luft mit Leichengeruch.
Nitschewo.
Mitte Februar trafen die Stürme aus dem Osten ein … die sibirischen Stürme, die die Stämme der Urwälder in der Taiga knickten, das Holz vor Frost mit jammerndem Krachen sprengten … Der Sturm, der alles Leben tötete … Nur die Plennis lebten … in den Baracken, die zuschneiten, deren Türen zufroren und die man morgens auftauen mußte, um Essen holen zu können. Die Posten auf den Türmen waren eingezogen … wenn die sibirischen Stürme kamen, gab es keine Flucht mehr. Selbst die Pendelposten außerhalb des Lagers taten keinen Dienst. Tot lagen die Baracken unter den pfeifenden Stürmen … nichts rührte sich außerhalb der vereisten Bretterwände, nur ab und zu huschte eine Gestalt durch den Sturm, warf sich gegen den eisigen Wind und stürzte dann in eine andere Baracke. Es waren die Essenholer, die beiden Sanitäter, einer der SS-Ärzte, der gerufen worden war zu einem der unzählbaren Verhöre …
Auf der Wolga türmte sich das Eis. Es krachte in den Nächten. Heulend strichen die Wölfe um den Drahtzaun des Lagers und versuchten, ihn zu durchbrechen. Sie witterten die Wärme innerhalb der Holzhütten. Doch keiner kümmerte sich um sie … sie wurden nicht einmal beschossen … sie lagen im Schnee, die Schnauze gegen den Wind, und wimmerten.
In dieser Zeit genas Sellnow vollends. Er wurde kräftiger, ruhte sich aus, lag viel unter den drei schmierigen Decken und las jetzt des öfteren in der Bibel. Das fiel ihm selbst auf … aber er verspürte das Bedürfnis. Ein aktuelles Buch, dachte Sellnow, um seine Erschütterung zu bagatellisieren. Er dachte nächtelang nach und lag schlaflos auf seinem Strohsack. Er hatte die Anwesenheit Gottes geleugnet, er hatte einmal zu Dr. Böhler gesagt: »Wenn ich einen Bauch aufschneide und wieder zusammenflicke, sehe ich nichts Göttliches dabei. Aber die Verwandten sagen dann: Gott hat ihn gerettet!« Und Dr. Böhler hatte geantwortet: »Die Fähigkeit, Bäuche aufzuschneiden, die haben Sie von Gott, Werner.« Da hatte er gelacht und gemeint, daß er gar nicht das Gefühl hatte, in der Universität einem Sprachrohr Gottes gegenüberzusitzen, als er den alten Professor Walter über Anatomie dozieren hörte … Und jetzt las er die Bibel und war ergriffen.
Man hat alles falsch gemacht, dachte er. Einfach alles. Es ist entsetzlich, wenn man sieht, wie das Leben vorbeigeht, ohne die
Weitere Kostenlose Bücher