Der Arzt von Stalingrad
revidieren …«
Kuwakino lächelte schwach. »Ich bin ein Mensch, Genosse Kresin. Nur ein Mensch … Ich hatte eine Mutter … sie sang mit mir unter einer Perlenkrone die Lieder der Heiligen Nacht. Es war ein Fehler, bis Weihnachten hierzubleiben … siebzehn Jahre habe ich zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten mit den anderen vom Politbüro gesoffen und gehurt … so vergißt man schnell.« Er tastete nach seinem Kopf und legte die Finger auf die schwarze Augenklappe. »Sie werden es nicht glauben … Ich habe keine Angst vor dem Tod … ich habe nur Angst vor dem, was nach dem Tode kommen kann …«
Dr. Kresin drehte sich brummend um. Dr. Böhler stellte den Kragen seines Mantels hoch und begleitete Kuwakino zum Wagen. Bevor er einstieg, hielt ihn Dr. Böhler noch einmal fest.
»Was wird aus Dr. Sellnow, Genosse Kommissar?« fragte er langsam.
Kuwakino zuckte mit den Schultern. »Man wird ihn bestrafen.«
»Legen Sie in Moskau ein gutes Wort für ihn ein.«
»Nein!« Kuwakino fuhr herum. Sein eines Auge flammte. »Und wenn es eine Sünde ist, die mir Gott nie verzeiht: Er soll büßen! Büßen! Büßen! Und ich wäre glücklich, wenn er wie ein lahmer Hund verreckte … Es wäre nur gerecht …«
Der Wagen fuhr an, der kalte Motor klapperte und tuckerte. Als Kuwakino sich zurückbeugte und noch einmal nach dem Lager sah, stand niemand mehr am Tor als die Posten. Vergessen, dachte er. Verachtet. Gehaßt. Und in Moskau wartet das Politbüro …
Seit der Weihnachtsaufführung hatte Peter Fischer einen neuen Posten erhalten: Michail Pjatjal hatte ihn von der Lagerleitung als Küchengehilfen angefordert und auch bekommen. Nicht daß Pjatjal es nicht schaffte, denn ihm unterstanden neben einigen Küchenmädchen mit Bascha an der Spitze noch 32 Plennis für Hilfsdienste und als Hilfsköche, aber Peter Fischers Trompete hatte es Bascha angetan. Sie hatte Michail so lange gebeten, bis er sich entschloß, bei Peter Fischer, der selbst kaum blasen konnte, Unterricht zu nehmen. Mit dem nächsten Verpflegungstransport hatte er sich aus Stalingrad eine blitzende Trompete kommen lassen, hockte in seinem Zimmer hinter der großen Küche und preßte jammervolle Laute aus dem gebogenen Blech. Peter Fischer nahm seine Lehrmeistertätigkeit sehr ernst. Dafür bekam er von Pjatjal abends, wenn er in die Baracke zurück mußte, die Taschen mit Lebensmitteln vollgestopft.
»Nix verratten und zeiggen«, flüsterte Pjatjal zwar jedesmal, aber dennoch lebte die Baracke durch zusätzliche kleine Sonderzuwendungen besser als die andern Plennis.
Eines Tages wurde Dr. Böhler aus dem Lazarett zur Kommandantur geholt. Ein junger Wachleutnant, nicht ein gewöhnlicher Posten, holte ihn ab. Im Zimmer Worotilows saß Sergej Kislew, ein Bauunternehmer aus Stalingrad. Er sah den deutschen Arzt neugierig an, aber in seinem Blick lag etwas Ängstliches, Furchtsames, das Dr. Böhler aufmerken ließ. Worotilow reichte ihm beim Eintritt gleich sein Zigarettenetui hin. Doktor Böhler lächelte. Er will etwas von mir – weniger Worotilow als dieser dicke Mann dort auf dem Stuhl. Vielleicht braucht er Arbeiter, und ich soll hundert Plennis gesund schreiben?
Worotilow zeigte auf ihn und nickte Dr. Böhler zu.
»Dieser vollgefressene Kerl ist Sergej Kislew«, sagte er. Dr. Böhler begriff, daß Kislew kein Wort Deutsch verstand. »Er ist einer der brutalsten Ausbeuter der Gefangenen. Er führt die Staatsbauten in Stalingrad aus. Großer Bonze der Partei und Arschlecker Moskaus.« Dr. Böhler lächelte. Er sah, wie Kislew die Worte Worotilows gespannt verfolgte und lebhaft mit dem Kopf nickte.
»Er ist zu mir gekommen«, fuhr Worotilow fort, »weil sein einziger Sohn krank ist. Er behauptet sehr krank. Eine böse Magenkrankheit. Ißt seit Wochen kaum mehr, bricht alles …«
»Wie alt ist denn der Patient?« fragte Böhler interessiert.
»Ich glaube Anfang Zwanzig«, sagte Worotilow. »Es hat sich in Stalingrad herumgesprochen, daß wir hier gute Ärzte haben. Jetzt bittet mich Kislew, Sie für ein paar Stunden mit nach Stalingrad zu geben, damit Sie seinen Sohn untersuchen können. Was halten Sie davon?«
Böhler lächelte. »Ärzte müssen kommen, wenn man sie ruft«, sagte er verbindlich, »aber hier ist das etwas schwierig. Ich bin nicht ganz Herr meiner Entschlüsse …«
»Ich beurlaube Sie natürlich. Ich darf es zwar nicht …« Worotilow ging im Zimmer hin und her, »es ist streng verboten, daß Gefangene mit der Zivilbevölkerung
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