Der Arzt von Stalingrad
sagen!«
»Soll ich …?«
»Bitte, nein, er wird es früh genug erfahren. Ja, wenn ich eine moderne Klinik hätte, mit allem, was dazu gehört …«
»Dann würden Sie operieren?« drängte Worotilow.
Böhler nickte. »Ja«, sagte er, »dann würde ich es versuchen, so gering die Chancen sind. Es wäre an sich keine schwere Operation, für einen weniger Schwerkranken, meine ich. Man müßte den Ort der Blutung suchen und sie stillen. Es gibt keine Krankheit, bei der man nicht Hoffnung haben könnte – und wenn es der Glaube an ein Wunder ist …«
»Sie glauben daran?« Worotilow sah Böhler aus den Augenwinkeln prüfend an.
»Wir haben viele seltsame Dinge gesehen, auch Heilungen, die man nach menschlichem Ermessen nicht mehr für möglich hielt. Der Himmel ist weit, Major Worotilow, und der Mensch ist unter ihm nur ein Sandkorn.«
»Aber Sie wollen Sascha Kislew nicht operieren?«
»Auf keinen Fall hier oder im Militärhospital. Das wäre reiner Mord.«
»Im Staatskrankenhaus Stalingrad operiert nur Professor Pawlowitsch.«
»Dann soll er die Operation machen.«
»Er hat sich bereits geweigert, ohne den Patienten gesehen zu haben. Ihm genügt die Krankengeschichte.«
Dr. Böhler nickte bestätigend. »Sie genügt auch«, sagte er.
»Natürlich will der Herr Professor beim Sohn eines mächtigen Mannes keinen Mißerfolg riskieren – verstehe ich sehr gut. Nur daß man mir es zumutet … Wenn es schiefginge, müßte ich es ausbaden, würde unter Umständen bestraft, noch einmal zu Lager verurteilt … zehn Jahre … zwanzig Jahre … ihr seid ja nicht kleinlich.«
»Aber Sie würden ihn trotzdem im Staatskrankenhaus operieren, nicht wahr?«
»Ich würde es auf alle Fälle versuchen, ja – aber es ist müßig, darüber zu sprechen. Ich muß ins Lazarett.«
Er verließ das Zimmer. Erstaunt und verständnislos sah Kislew ihm nach. Warum ging der Arzt und ließ ihn allein? Und Sascha, sein Sohn? Kislew sprang auf und stürzte auf Worotilow zu …
Zwei Stunden später wurde Dr. Böhler bereits wieder abgeholt. Ein Sanitätswagen der Division fuhr ihn aus dem Lager, ein russischer Kapitän-Arzt, Studienkollege Dr. Kresins, begleitete ihn.
»Der Patient ist schon ins Staatskrankenhaus gebracht worden«, teilte er Böhler mit. Er sprach ganz gut Deutsch.
»Der Genosse Professor ist auf Ihre Operationsmethode sehr gespannt«, setzte er nach einer Weile hinzu.
Dr. Böhler riß die Augen auf und sah ihn ungläubig an. »Er will mich operieren lassen?«
»Dazu hole ich Sie ja ab.«
»Im Stalingrader Staatskrankenhaus? Das ist doch unmöglich …«
»Warum denn, Herr Kollege?«
»Ich bin ein deutscher Plenni!«
»Na und? Drei Kommissare sind ebenfalls in der Klinik. Man wird Sie der Form halber entlassen …«
Dr. Böhler fuhr herum, seine Wangen glühten. »Was heißt der Form halber?« Seine Stimme zitterte vor Erregung.
Der Kapitän-Arzt sah ruhig auf die verschneite Straße vor sich. »Das heißt, daß man Sie nach der Operation wieder gefangensetzen wird! Dazu sind die drei Kommissare da. Man wird Sie an Ort und Stelle wieder verurteilen. Es geht hier nur darum, daß wir Moskau überlisten und Sie als Privatmann in der staatlichen Klinik operieren lassen! Außerdem hat Sergej Kislew dem Lazarett fünfzigtausend Rubel gestiftet, wenn die Operation gelingt. Das zählt noch mehr.«
»Und das im Staate der Volksregierung! Dem Land ohne Klassenunterschied. Dem Paradies der Arbeiter!« Dr. Böhler lachte gequält. »Ihre Methoden sind wert, geschichtlich festgehalten zu werden!«
Der Kapitän-Arzt lächelte zurück. »Man wird es, Herr Kollege. Wir haben 1945 beim Einmarsch in Berlin bereits Geschichte geschrieben! Und wir werden sie weiterschreiben – wir allein! Mögen sich Amerika oder England mächtig fühlen und diplomatische Schlachten schlagen. Wir arbeiten in der Stille und gewinnen die Herzen der Völker – mit den gleichen Methoden, mit denen Sie heute den ganzen Tag ein völlig freier Mann sind. Der Chirurg Dr. Fritz Böhler aus Köln, der den ehrenvollen Staatsauftrag hat, in Stalingrad zu operieren. Am Abend sind Sie wieder Plenni …« Der Kapitän-Arzt lächelte mokant. »Die Geschichte will es so.«
Die riesige Staatsklinik lag weiß und still in einem Park außerhalb der Stadt. Eine der typischen russischen Monumentalbauten, die man den fremden Touristen zeigt und die den Aufschwung der sowjetischen Wirtschaft und Kultur repräsentieren sollen. Eine Mischung zwischen
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