Der Arzt von Stalingrad
Kanüle versah und aus einem becherförmigen Gefäß aufzog. Dann reichte sie ihm die Spritze und machte sich sofort daran, eine weitere vorzubereiten.
Böhler stach die lange Nadel in die mit Jod bestrichene Bauchhaut und injizierte den Inhalt der Spritze. Der durchflutete nun das ganze Operationsgebiet, von den Rippen bis unter den Nabel und seitlich bis fast zu den Flanken.
Der Kranke war stark benommen und nahm die Vorgänge nicht wahr. Er atmete Sauerstoff durch eine Maske. Das Gas strömte ihm aus einer großen Flasche zu. Neben ihm saß eine Schwester und sprach leise auf ihn ein – beruhigende Worte, die man kaum hörte. Über den Köpfen der beiden war eine Art Zelt angebracht, das gegen den Operateur hin geschlossen und nach hinten offen war. Die Schwester unter dem Zelt kontrollierte zugleich den Puls des Patienten. Ein Assistent regulierte das Sauerstoffgerät.
Böhler war mit der Anästhesie fertig. Er ließ sich von einer Schwester die Handschuhe ausziehen und neue überstreifen. Dann wartete er geduldig, bis die Betäubung wirksam geworden war.
Der Kranke hatte kein schmerzlinderndes Mittel bekommen. Böhler wollte keinen Atmungsschaden riskieren. Sehr vorsichtig ließ er der an einer Knöchelvene angelegten Dauertropfinfusion mit Spenderblut Herzmittel zur Stützung von Herz und Kreislauf zusetzen. Ununterbrochen floß Blut in die Adern des ausgebluteten Kranken. Aber da drinnen floß es ebenso schnell wieder durch das blutende Geschwür in den Darm ab. Ein Faß ohne Boden. Wenn es nicht gelang, die Blutung zu stillen, gab es keine Rettung mehr. Und ob die Operation, eine ungeheure Belastung für den Schwerkranken, noch würde Hilfe bringen können, war mehr als fraglich. Es gehörte ein verzweifelter Mut dazu, sie überhaupt zu wagen.
Böhler nickte dem Professor zu. »Wir wollen anfangen«, sagte er knapp.
Der Professor sagte einige Worte zu seinen Mitarbeitern. Und das große Wagnis begann …
Böhler hatte den eröffnenden Schnitt genau in der Mitte des Bauches geführt, vom Brustbein bis unter den Nabel. Der Professor zog die Augenbrauen hoch. »Wir legen den Schnitt quer, von rechts oben nach links unten über den Magen«, sagte er.
Böhler nickte und meinte kurz, ohne sich in seiner Tätigkeit unterbrechen zu lassen: »Ich brauche viel Platz, denn wir werden Überraschungen erleben. Ich erweitere den Schnitt später nicht gern.«
Die Wundränder wurden sorgfältig abgedeckt, einige Blutgefäße mit Klemmen gegriffen, durchtrennt und abgebunden. Es blutete kaum aus dem Fleisch. In fliegender Eile setzte Böhler das Bauchspekulum ein, das die Wunde offenhielt, und öffnete das Bauchfell. Trotz der örtlichen Betäubung sind das immer schmerzhafte Verrichtungen, bei denen die Gefahr besteht, daß der Patient unruhig wird. Aber der junge Mann stöhnte nur ein wenig. Er schien selbst zu Schmerzäußerungen bereits zu schwach zu sein.
Böhler tastete die Leber ab. »Stark vergrößerte Leber«, sagte er zum Professor, »und Narbenbildungen im Bereich des kleinen Netzes.« Er bemerkte mit Genugtuung, daß er sich geirrt hatte, als er den Professor für schwächlich hielt. Der Mann arbeitete ausgezeichnet.
Minutenlang versuchte Böhler dann, tief in der Bauchhöhle eine Arterie zu finden, aus der erfahrungsgemäß die Blutung bei Zwölffingerdarmgeschwüren erfolgt. Es gelang ihm nicht, an sie heranzukommen.
»Ich schreite zur Magenresektion nach Billroth II«, sagte er kurz, kümmerte sich nicht um das erstaunte Gesicht des Professors, sondern fügte nur hinzu: »Ich komme nicht an das Geschwür heran …«
»Er hält es nicht aus«, flüsterte ihm der russische Chirurg zu. Aber Böhler sah nicht auf, er zuckte nur die Achseln.
Das Operationsteam befand sich auf eingefahrenen Pfaden. Die Instrumente gelangten ohne besondere Aufforderung in die Hände Böhlers, und der Professor kam seinen Absichten genau im richtigen Augenblick entgegen. In kürzester Frist hatte Böhler den Magen frei und konnte ihn abtrennen. Nur ein Drittel des Organs blieb zurück und wurde an einer Darmschlinge angeschlossen. Damit wurde die durch das Wegnehmen des Magens unterbrochene Verdauungspassage wiederhergestellt.
Böhler durchtrennte die vordere Zwölffingerdarmwand und ließ die Wundränder mit Klemmen fassen und auseinanderspreizen. In der Tiefe gewahrte er nun ein kraterförmiges Geschwür. Es war etwa zwei Zentimeter groß. In der Mitte befand sich ein kleiner runder Krater, zwei Millimeter im
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