Der Arzt von Stalingrad
lieferten die Waren ab und sprachen nicht viel dazu. Es war selbstverständlich nach so vielen Jahren russischer Gefangenschaft, daß den Kranken und Ärmsten geholfen wurde, und Dr. Böhler notierte sich jedes eingehende Päckchen und führte genau Buch. So erhielten die Kranken jeden Tag zehn Gramm Fett mehr, ein oder zwei Riegel Schokolade, ein wenig Marmelade auf das glitschige Brot und ab und zu eine Suppe aus Puddingpulver mit verdünnter Büchsenmilch.
Den Hauptteil des Paketes von Dr. Schultheiß bekam Janina Salja. Sie wollte es zwar nicht, und Jens mußte ihr den Kakao und die dicken Butterbrote förmlich aufdrängen, und als sie sich immer noch weigerte und ihn bat, es selbst zu essen, verordnete er ihr Sonderkost und ließ sie ihr durch Schwester Ingeborg Waiden verabreichen.
Sie reichte bei keinem lange, diese Zusatzverpflegung, denn zehn Kilo sind schnell verbraucht und nur ein kurzer Komet am dunklen Himmel des Hungers, aber diese zehn Kilo wirkten sich aus in der Moral der Plennis, in der Steigerung der Kraft des Hoffens und in der Arbeitswilligkeit und Leistung.
Major Worotilow sah darin einen schönen Anlaß, an Hand eines Berichtes an das Generalkommando diese Tatsachen aufzuzählen und um weitere Paketsendungen zu bitten. Und da es ein offizieller Bericht war, eine dienstliche Meldung, konnte man sie in Stalingrad nicht unter den Tisch fallenlassen, sondern war gezwungen, die Worte des Majors an die Zentrale nach Moskau weiterzuleiten. Dort aber gingen von allen Lagern gleichlautende Meldungen ein: Hebung des allgemeinen Standards, Erhöhung der Arbeitskraft. Erfüllung des Solls, Steigerung der Moral und damit auch natürlich des Gesundheitszustandes, wenn …
In Moskau fanden Beratungen statt. Immer wieder gewann der Plan einer völligen Umstellung der Gefangenschaft Gestalt: Der Plan, aus den Kriegsgefangenen Strafgefangene zu machen, sie lebenslänglich zu verurteilen, zu langjährigen Strafen zu begnadigen und so rechtlich die Möglichkeit zu schaffen, sie in Rußland zu behalten – als Verbrecher zu behalten –, ihnen aber andererseits alle Vergünstigungen zu geben, die einem Justizgefangenen zustehen und die seine Arbeitskraft für das Wohl der Sowjets heben.
Der Plan 1950 war geboren! Der große, völkerrechtswidrige Plan, der Tausende deutscher Plennis an Rußland kettete.
Plan 1950! Er wurde ausgelöst durch eine Welle von Verhören und eine Sintflut von erdbraunen Uniformen mit den Zeichen der Politruks, eine Sturmflut des MWD, die sich in die Lager ergoß und alles verurteilte, was nach Ansicht der Ärzte arbeitsfähig war und Rußland noch jahrelang nützlich sein konnte.
Ein Schauspiel sollte beginnen, grotesk wie eine Komödie, tragischer als eine griechische Tragödie und seelenlos wie jede abstrakte Konzeption: die ›Einordnung‹ der deutschen Plennis in das Staatsgefüge der Sowjetrepublik.
Noch aber ahnte niemand diese Entwicklung – vor allem nicht Major Worotilow, als er seinen schönen Bericht schrieb und um mehr Pakete bat.
Dr. Böhler baute sein Lazarett weiter aus, indem er Dr. Schultheiß mit Dr. Kresin nach Stalingrad gehen ließ, um dort in einer Apotheke Betäubungsmittel gegen einige Fleischkonserven einzutauschen. Das mußte geheim getan werden, es war Sabotage am staatlichen Eigentum. Aber im Angesicht der Fleischbüchsen fiel auch der Leiter der Stalingrader Staatsapotheke um.
Die Kasalinsskaja befand sich seit der Operation im Straflager von Nishnij Balykleij wie in einem Trancezustand. Da sie nichts wieder von Sellnow hörte und alle Anfragen in Stalingrad ergebnislos blieben, nahm sie das Schlimmste an und verstieg sich zu der Behauptung, Dr. Böhler habe seinen Freund umgebracht.
»Sie hätten ihn nicht operieren dürfen!« wimmerte sie. »Mit einem Meißel! Er mußte sterben …«
»Ohne die Operation wäre er bestimmt gestorben!« Dr. Böhler ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Die Ungewißheit nagte auch an ihm, wenn er es auch nicht so öffentlich zum Ausdruck brachte wie die Kasalinsskaja, die sich von dem Tage der Operation an weigerte, weiterhin die Plennis zu untersuchen. »Ich tue es nicht mehr!« hatte sie Dr. Kresin angeschrien. »Ich kann es nicht! Ich habe jahrelang wie ein Schwein an diesen Menschen gehandelt, ich habe sie ausgesogen, ich habe sie ins Elend getrieben – ich kann nicht mehr! Ich will von alledem nichts mehr sehen!«
Dr. Kresin hatte ihr nicht geantwortet – aber er hatte sie auch nicht gemeldet. Er
Weitere Kostenlose Bücher