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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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der Steppe und in den Bergen nahe der Großen Mauer im weiten China …
    Wenige Tage nach der ersten Paketaktion Moskaus begannen die Verhöre durch den MWD.
    Ganz plötzlich waren sie da, die Kommissare, die Major Worotilow mit einer bisher unbekannten Ehrfurcht grüßte. Selbst die Kasalinsskaja und Dr. Kresin bemühten sich heran und wurden den Männern vorgestellt, die jetzt vollzählig – es waren zwölf – vor der Kommandantur standen. Groß, gut genährt, in sauberen, neuen Uniformen, mit flachen Mützen auf den runden Schädeln, mit Augen, die musternd über das Lager streiften.
    Dr. Böhler stand am Fenster des Lazaretts und wandte sich zu Dr. Schultheiß um, der den Küchenzettel aufstellte – unter Berücksichtigung der Paket-Sonderverpflegung. »Der Tod kommt ins Lager«, sagte er leise.
    Dr. Schultheiß zuckte zusammen und stellte sich neben seinen Chef. »MWD«, flüsterte er.
    Die Tür wurde aufgerissen. Dr. Kresin trat ein, sah die deutschen Ärzte am Fenster stehen und lachte rauh.
    »Nette Kerle, was?« sagte er laut und warf die Tür hinter sich zu. »Kommen aus Moskau! Direkt aus Moskau! Große Untersuchung auf Herz und Nieren! Und dann geht es ab!«
    »Ab? Wohin?« Dr. Böhler war bleich geworden. Er ahnte etwas Ungeheures, etwas nie Geglaubtes, etwas bisher nur Geträumtes. »Wohin?« wiederholte er noch einmal, und seine Stimme war heiser. »Sagen Sie es, Dr. Kresin!«
    »In eure Heimat!« Der russische Arzt setzte sich schwer.
    »In die Heimat!« stotterte Dr. Schultheiß. Er wandte sich plötzlich ab. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Auch Dr. Böhler lehnte sich erschüttert an die Wand und blickte starr an die Decke.
    »In die Heimat …«, sagte er leise. Seine Stimme schwankte. »Ist das sicher, Dr. Kresin?«
    »Ja! Zuerst eine Portion Offiziere und alle Invaliden, soweit sie geh- und transportfähig sind. Der erste Zug ins Entlassungslager Moskau soll schon im Frühjahr gehen, wenn der Schnee die Straßen freigibt.«
    »Nach sieben … nein, dann sind es acht Jahre!« Doktor Böhlers Lippen zuckten. »Wir sollen wirklich Deutschland wiedersehen?«
    »Ja!« schrie Dr. Kresin. »Und dann geht ihr weg, ihr alle, und wir leben hier weiter in dem Mist, müssen uns ducken, haben keinen, mit dem man vernünftig sprechen kann – wir bleiben bei Mütterchen Rußland und verfaulen, weggeworfener Kapusta! Wir haben uns so an euch gewöhnt, an die Plennis, an diese hundsverfluchten Deutschen, daß uns etwas fehlt, wenn ihr wieder weg seid! Gott verdammt noch mal!«
    Böhler legte Kresin die Hand auf die Schulter. Er wußte, was der große mächtige Mann im Innern litt. »Kommen Sie doch nach, Kresin«, sagte er leise.
    »Nach Deutschland? Nein! Ich bin Russe, ich liebe mein Land. Ich bin Bolschewik. Im Alter kann man nicht mehr umschwenken wie ihr Jungen, die der Fanfare nachlaufen, die am lautesten bläst. Ich werde hier vermodern, an der Wolga oder in Sibirien, in der Steppe, der Taiga, der Tundra, am Eismeer – wer weiß es außer Moskau? Es ist mein Los. Und ihr geht hinaus in die Freiheit …« Er erhob sich schwer und wandte sich ab. »Das ganze Leben ist Mist!« sagte er grob. Dann ging er so plötzlich, wie er gekommen war, und knallte die Tür zu.
    Dr. Schultheiß drehte sich um. Tränen standen in seinen großen, blauen Kinderaugen. »Wir werden entlassen«, stammelte er. »Ich werde die Mutter wiedersehen und den Vater, den Bruder, die Schwester … Herr Stabsarzt … ich werde sie alle wiedersehen …« Plötzlich begann er zu schluchzen und legte den Kopf auf die Schulter des Chefs. Dr. Böhler strich ihm über die blonden Haare.
    »Bleib jetzt stark, mein Junge«, sagte er leise und väterlich. »Wir haben so lange auf diesen Augenblick gewartet, und –«, er stockte, »wir wissen noch nicht einmal, ob es wirklich wahr ist …«
    Keiner wußte es im Lager 5110/47. Selbst Major Worotilow nicht, der am Abend mit den Kommissaren in seinem Zimmer saß, Wodka trank, Zigaretten rauchte und die Listen des Lagers durchsah. Mühsam, jeden Plenni genau überdenkend, strich er die Nummern derjenigen an, die er zur Entlassung vorschlug. Leutnant Markow gab gehässige Kommentare dazu, die Worotilow überhörte, aber einer der MWD-Leute sich heimlich notierte.
    »Wir dürfen aus Ihrem Lager, Genosse Major, 362 Mann entlassen«, sagte der MWD-Oberst während der Zählung.
    Worotilow sah erstaunt auf. »Nicht mehr?«
    »Die anderen Lager müssen auch berücksichtigt werden.

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