Der Arzt von Stalingrad
Kranke sich im Bett unruhig herumwarf oder mit den gelbweißen Händen die Bettdecke strich.
Das Zimmer Sellnows. In der Staatsklinik von Stalingrad. Auf der Privatstation Professor Taij Pawlowitschs.
Niemand außer den wenigen Eingeweihten wußte, daß Sellnow in dieser Klinik lag. Zu der Handvoll Wissender gehörte die mongolische Schwester, ein junger Stationsarzt, der Oberarzt und ein Krankenpfleger. Das Zimmer lag am Ende eines kleinen Flures, der sonst nur die drei Laborräume beherbergte, in denen Pawlowitsch seine Versuche unternahm. Es war ein Flur, den kein anderer in der ganzen Klinik betrat, der als ein unantastbares Heiligtum betrachtet und gemieden wurde.
Eben hatte Pawlowitsch das Herz abgehorcht. Er maß den Blutdruck, den Puls, sah die Fieberkurven nach und injizierte Cordalin. Dann machte der junge Assistent mit einem fahrbaren Röntgenapparat noch einmal eine Aufnahme des Kopfes, während sich Pawlowitsch nachdenklich an das Bett setzte.
»Die Operation scheint gelungen zu sein«, sagte er zu dem Oberarzt, der in der weißen Tür lehnte und über die spanische Wand blickte. »Mit einem primitiven Meißel und einfachem Schneiderzwirn. Die Deutschen wagen alles … Ich hätte es nicht gewagt!«
»Der Deutsche hatte nichts zu verlieren«, meinte der Oberarzt. Es war ihm unangenehm, daß sein Chef sich selbst erniedrigte. »Und er hat eben Glück gehabt. Bei einem zweiten Fall könnte es gerade das Gegenteil sein. Nur ein Glücksfall, Herr Professor.«
Pawlowitsch nickte nachdenklich. Er beobachtete den Assistenten, wie er den Röntgenapparat zur Seite fuhr und der Schwester die belichtete Platte gab, damit sie sofort entwickelt würde. Er beugte sich etwas vor und deckte Sellnow wieder bis zum Hals zu.
»Wir wissen noch nicht, wie das Gehirn reagiert. Noch zeigt der Körper keinerlei Reflexe, die darauf schließen lassen, welche Gefühlszentren gestört sind.« Pawlowitsch strich sich durch den weißen Bart und dann über die kleinen, schrägen Augen. »Wenn nur die Besinnung wiederkäme! Wenn er nur sprechen würde – falls er überhaupt noch sprechen kann. Wenn er nur ein paar Regungen zeigte! Sein Dauerschlaf beunruhigt mich.«
Der Oberarzt kam hinter der spanischen Wand hervor und hob die Schultern. »Man hat schon wieder aus dem Lager 5110/47 angerufen und nach Sellnow gefragt. Die Genossin Kasalinsskaja …«
»Und was haben Sie gesagt?«
»Ich habe wie immer abgehängt.«
Professor Taij Pawlowitsch nickte zustimmend. »Hängen Sie immer ab, wenn man anfragt«, sagte er. Er erhob sich und blickte noch einmal auf den Kranken, der besinnungslos und ohne Regung in den Kissen lag. »Ich brauche diesen Mann da … Ich muß an ihm studieren und ihm noch einmal den Schädel öffnen, um zu sehen, was in ihm vorging!«
Seine Augen leuchteten auf. Der Fanatismus eines heidnischen Priesters stand darin. Die kleine, verdorrte Gestalt straffte sich, und aufrecht ging er an dem Oberarzt und dem Assistenten vorbei aus dem Raum. Die Schwester sah ihm groß nach. In ihr mongolisches Gesicht trat ein Zug von Grauen. Sie schob die bespannte Wand wieder vor das Bett und sah den Oberarzt an.
»Er weiß nicht, wie er ihn heilen kann«, sagte sie leise. Dabei blickte sie zur Tür. Jeder wußte, wer ›er‹ war …
Der Assistent nickte. »Wir wissen es alle nicht, Schwester.«
»Dann muß er ja sterben …«
»Im Mütterchen Rußland sterben täglich Tausende.« Der Oberarzt drehte sich um. Während er seinen Mantel zuknöpfte, klinkte er die Tür auf. »Wenn er gestorben ist, dieser Sellnow, rufen Sie uns sofort, Schwester. Er kommt dann gleich in die Anatomie. Der Chef fiebert darauf, ihn zu sezieren …«
Die Tür klappte. Sie waren allein: die mongolische Schwester und der sterbenskranke deutsche Plenni Dr. Werner von Sellnow. Noch schlug das Herz. Leise, zögernd, fragend, ob es noch einen Sinn habe. Die Hände zuckten über das Bett.
Die Schwester nahm ihr Buch wieder auf. Einen Roman. Die Lofotfischer, hieß er. Ein Roman aus der Feder eines treuen Kommunisten. Ein Stempel war auf dem Titelblatt des Buches, ein rundes Siegel: Bibliothek der sowjetischen Armee.
Die Lofotfischer. Ein Roman aus dem Leben braver Männer. Ausgezeichnet mit dem Nationalpreis.
Die kleine Mongolin las Seite um Seite. Aber sie verstand nicht, was sie las. Sie dachte nur: Er wird sterben. Pawlowitsch wartet darauf, daß er stirbt. Er wird ihn fleddern wie ein Geier, der eine Leiche zerreißt. Wie die Geier am Rande
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