Der Arzt von Stalingrad
verschwieg den Vorfall und zeichnete die täglichen Gesundheitsrapporte zur Hälfte mit dem Namen der Ärztin ab, damit man in Stalingrad keinen Verdacht schöpfte. Niemand wußte es, nicht einmal Major Worotilow.
Über Sellnow wußte man nur soviel, daß er nicht mehr im Lager Nishnij Balykleij war. Er war vier Tage nach der Operation von einem staatlichen Krankenwagen abgeholt worden, ohne die Besinnung wiedererlangt zu haben. Wie Buffschk berichtete, war der Wagen nicht nach Süden, sondern nach Norden gefahren. Man nahm deshalb an, daß sich Sellnow gar nicht in Stalingrad, sondern in Saratow befand, was sehr verwunderlich stimmte und zu allerhand Vermutungen Anlaß gab.
»In Saratow sitzt der Stab des MWD«, sagte Worotilow dumpf, als man diese Nachricht bekam. »Und in Saratow hat auch Pawlowitsch keine Gewalt mehr über ihn …«
»Ich werde nach Saratow fahren und ihn suchen!« rief die Kasalinsskaja wild. »Ich werde ihn finden! Und wenn ich jedes Krankenhaus mit Gewalt stürmen müßte! Ich muß zu ihm!«
Dr. Kresin sah den Plan der Militärärzte im Südabschnitt der Armeegruppe durch und schüttelte den Kopf. »In Saratow ist ein Dr. Sedowkowitsch der Leiter der staatlichen Klinik! Ich kenne Sedowkowitsch nicht – er muß ein junger Arzt sein.«
»Ein Parteiarzt?« fragte Dr. Böhler.
»Selbstverständlich. Ohne Partei bekommt er keine Stellung in einer staatlichen Klinik!«
»Und Professor Pawlowitsch weiß auch nicht, wohin man Sellnow gebracht hat?« fragte die Kasalinsskaja erregt.
Dr. Kresin nickte nachdenklich. »Pawlowitsch schweigt. Er ist wie eine völlig ausgetrocknete Mumie! Wenn man ihn wegen Sellnow anruft, hängt er einfach wieder ein. Es muß etwas Unvorhergesehenes geschehen sein …«
Die Kasalinsskaja saß starr in ihrem Sessel. Sie blickte hinaus über die verschneite Steppe und die tief herabgebogenen Wälder an der Wolga. Auf den Wachttürmen rauchten die Posten. Jenseits der Straße, im metertiefen Schnee, wateten Kolonnen von Plennis. Es waren die Holzkommandos, die in den Wäldern das Brennmaterial für die Barackenöfen zusammensuchten. Zehn Gefangene kehrten die Einfahrt am großen Lagertor. Leutnant Markow stand vor der Kommandantur und rauchte Pfeife. Er wurde grinsend von der Seite betrachtet, denn seine Pfeife war deutschen Ursprungs – er hatte sie eingetauscht gegen ein Küchenmesser. Bei keinem wäre das aufgefallen – aber Markow mit einer deutschen Tabakspfeife! Man kam aus entfernten Blocks zum Lagertor geschlendert, unter irgendeinem Vorwand, nur um dieses Schauspiel zu sehen.
»Wenn Sellnow nicht wiederkommt, werde ich gehen!« sagte die Kasalinsskaja dumpf.
»Gehen? Wohin?« Worotilow schüttelte den Kopf.
»Nach Westen! In die Freiheit!«
Dr. Kresin zog die Augenbrauen zusammen. »Sie reden wirr, Genossin! Sie werden nie über die Grenze kommen!«
»Ich werde!« sagte die Kasalinsskaja fest.
»Und dann?«
»Dann werde ich in alle Winde schreien, wie es wirklich aussieht bei Mütterchen Rußland. Dann werde ich hassen können, wie nie ein Mensch gehaßt hat!«
Major Worotilow erhob sich. Er war blaß, fahl, fast krank sah er aus. »Man hat seit 1919 versucht, uns Russen die Seele zu töten, uns zu einer Maschine der Partei zu machen, zu einem Zahnrad im Gefüge der Republik. Aber die russische Seele lebt … Es ist schrecklich, sie zu sehen … denn wir haben die Jahrzehnte umsonst gelebt … sinnlos gelebt …«
Er verließ das Zimmer und ging durch den Schnee zur Kommandantur. Dr. Kresin sah ihm nach. Er schüttelte den Kopf. »Jetzt hat es den auch gepackt! Verdammt noch mal – wie froh bin ich, wenn erst alle Deutschen wieder aus Rußland heraus sind …«
Die Kasalinsskaja drehte sich zur Wand und weinte. Sie weinte jetzt häufig. Sie war nur noch ein Schatten der ehemaligen Kapitänärztin Dr. Alexandra Kasalinsskaja, die schimpfend durch die Lager schritt und gesund schrieb, was herumkroch.
Über den Wäldern begann es wieder zu schneien …
Eine weiße, kleine Krankenstube. Ein Eisenbett, ein großes Fenster, mit einer bunten Übergardine verhangen, mit Linoleum ausgelegter Boden, ein Tisch mit Medikamenten, ein Waschbecken in der Türecke, vor dem Bett ein weißbespannter Schirm, eine Art spanischer Wand. Neben dem Bett ein weißlackierter Stuhl. Auf ihm saß eine junge, schwarzhaarige Schwester mit einem breiten, fast mongolischen Gesicht und kleinen, grünen Augen. Sie las in einem Buch und blickte nur ab und zu auf, wenn der
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