Der Arzt von Stalingrad
Rubeln wegrannte. Dort standen Hans Sauerbrunn, Julius Kerner und Karl Eberhard Möller und fingen den wütend vor sich hinfluchenden Georg ab.
»Sechs Rubel«, sagte Kerner nachdenklich. »Wenn wir uns alle in den Hintern treten lassen, macht das noch mal achtzehn Rubel.« Da keiner der anderen lachte, ging Kerner brummend in die Baracke und legte sich auf seine Pritsche.
Ein Glanzstück leistete sich ein Mann aus Baracke VIII, Block 12. Er verkaufte den Schlips eines Bauunternehmers, den er diesem am Tag zuvor in Stalingrad gestohlen hatte, an einen Mongolen als Schärpe für zwölf Rubel. Der Mongole trug den Schlips um den Leib bis 12 Uhr mittags … da sah ihn Leutnant Markow, gab ihm ein paar schallende Ohrfeigen und entriß ihm die Krawatte. Da der Mongole den Mann, der ihm den Schlips verkauft hatte, nicht mehr beschreiben konnte, blieb auch dieser Fall ungeklärt.
Am Abend dieses ersten Tages hatte das Lager 130 Rubel zusammen. Nach der abendlichen Zählung wurde der Betrag durch Sanitäter Emil Pelz an Dr. Böhler weitergegeben, der das Geld sinnend in der Hand wog.
»Man könnte heulen«, sagte er zu Sellnow. In einer Ecke des Arztzimmers saß Dr. Schultheiß und führte das Tagebuch der Station.
»Oberfähnrich Graf von Burgfeld unverändert«, trug er ein. Dann besann er sich, daß es hier keinen Grafen gab, sondern nur eine Nummer. Er strich den Namen durch und schrieb darüber: »Nummer 4583.«
Er legte den Bleistift hin und starrte auf seine Schriftzeichen. Der bleiche Körper Janina Saljas schälte sich aus den Buchstaben, dieser schlanke, unwirklich zarte Körper mit dem leichten Schweiß der Schwindsucht darüber. Er dachte plötzlich an den großen Major Worotilow, an diese stämmige, lebensstrotzende Gestalt mit Beinen wie zwei Säulen, und empfand einen ekelhaften Geschmack dabei, als seine Gedanken weiterglitten und Salja als des Majors Geliebte sahen. Das Mädchen wie ein Hauch und der Mann wie ein Baumstamm … Vielleicht zerbrach sie unter seinen Händen, und es gab keine andere Heilung, als Janina von Worotilow zu lösen …
Der Gedanke beflügelte ihn, machte ihn fast heiter.
Dr. Böhler schüttelte den Kopf und legte die 130 Rubel auf den Tisch.
»Unser Unterarzt träumt«, stellte er sachlich fest. »Ein merkwürdiges Lazarett: einen überpotenten Oberarzt und einen träumenden Unterarzt …«
»Und einen Heiligen als Chefarzt«, warf Sellnow sarkastisch ein. »Wo haben Sie überhaupt heute vormittag gesteckt, Schultheiß? Sie sollten sich ausschlafen, und als ich Sie wecken wollte, war Ihr Bett leer und gar nicht berührt …«
»Ich wurde von Dr. Kresin gebraucht«, sagte Dr. Schultheiß schnell. »Er wollte noch einmal die Listen unserer Bestellungen durchgehen. Ich glaube, wir bekommen eine Pneumothorax-Einrichtung …«
»Das wäre wunderbar!« rief Dr. Böhler begeistert. »Dann könnte ich unsere Lungenstation ausbauen!«
»Ja, das könnten wir dann.« Schultheiß schloß das Tagebuch und schob es in ein Regal. »Ich gehe einmal nach dem Oberfähnrich sehen …«
»Ein merkwürdiger Junge.« Sellnow schüttelte den Kopf, als sich die Tür hinter dem jungen Arzt schloß. »Begabt, ungemein begabt. Das habe ich in den letzten Tagen in Stalingrad gesehen. Er hat amputiert, während der Keller unter dickem Beschuß lag. Und er hat nicht dabei gezittert. Er vernähte gerade einen Stumpf, als die ersten Russen in den Keller drangen. Sie haben ihn nicht gestört, sondern gleich ihre Verwundeten gebracht. Wir haben dann sechs Tage nur Russenleiber geflickt.«
Dr. Böhler schien nicht hingehört zu haben. Er sah aus dem Fenster und bemerkte Leutnant Markow, der vor der Baracke III stand und mit Karl Georg herumschrie. Der Gärtner lehnte an der Wand und hatte seine Harke in der Hand. Es sah aus, als wolle er jeden Augenblick zuschlagen.
»Wo sind Blumen, du Schwein?!« brüllte Markow. Er hatte plötzlich bei einem Rundgang die gewohnten bunten Flecke auf dem Rasen vermißt und war bestürzt stehengeblieben.
Karl Georg zuckte mit den Schultern. »Schon wieder geklaut«, stellte er nüchtern fest.
»Morgen sind wieder Blumen da!« schrie Markow ihn wütend an.
»Ich bin kein Gott!« schrie Georg zurück. Das verblüffte Piotr Markow. Er drehte sich um und stapfte davon. Julius Kerner, der hinter der Barackentür stand, kam angstzitternd hervor.
»Du hast eine gottverfluchte Schnauze«, sagte er leise. »Das geht noch mal schief mit dir …«
»Leck mich am Arsch!«
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