Der Arzt von Stalingrad
Gefangenen der Nachtschicht und genossen die Sonne. Im Schatten lausten sie ihre Hemden oder wuschen in Kübeln ihre Strümpfe und Wäsche. Karl Georg stand traurig in seinem Garten und betrachtete die ausgedörrte Erde. Aus Worotilows Zimmer drang blecherne Radiomusik.
Trägheit des Sommers lag über der Erde. Schultheiß schloß einen Augenblick geblendet die Augen.
Einen Pfarrer. Der Oberfähnrich stirbt. Ob das Taschenmesser schuld war? Mord, hatte Major Worotilow gesagt. Mord, wenn er stirbt. Ihr alle seid dann Mörder … ihr deutschen Schweine …
Und er stirbt. Warum schweigt Gott? Warum schweigt er jetzt? Gerade jetzt …?
Einen Pfarrer. Wir haben ihn alle nötig, wenn er stirbt.
Dr. Sergeij Basow Kresin kam über den Platz. Er faßte Schultheiß an den Schultern und rüttelte ihn.
»Was haben Sie?« brummte er. »Einen Sonnenstich? Sie sind ja ganz blaß, Sie schwanken! Was ist denn los …«
»Er stirbt!« schrie Dr. Schultheiß. »Ich muß einen Pfarrer holen …« Er ließ Dr. Kresin stehen und rannte die Lagergasse entlang zu Block IX.
Dr. Kresin sah ihm erstaunt nach, ehe er begriff.
»Einen Pfaffen!« sagte er verächtlich. »Wenn der Mensch versagt, kann auch Gott keine Frage beantworten …«
Er ärgerte sich über sich selbst, daß er Angst um Dr. Böhler hatte.
In dem kleinen Zimmer am Ende des Ganges saß Dr. Böhler, eine Spritze in der Hand. Sellnow stand schwitzend an der Tür und beobachtete das verfallene Gesicht des jungen Oberfähnrichs.
»Lassen Sie das Cardiazol weg, Chef«, knurrte er zwischen den Zähnen. »Wir werden es anderswo nötiger brauchen.«
»Ich habe noch 45 Ampullen aus dem alten Stalingrad-Lazarett.« Dr. Böhler blickte schnell zu seinem Oberarzt. »Sie haben ihn aufgegeben?«
»Ja. Er ist schon tot, nur sein Herz schlägt weiter, als könne es ohne Körper leben …«
»Ich glaube nicht an seinen Tod.« Dr. Böhler erhob sich und schob den Arm des Röchelnden zurecht. Unter der bleichen, fast gelblichen Haut erblickte er dick die Vene in der Armbeuge. »Solange das Herz mitmacht, gebe ich nicht auf!«
»Sie quälen ihn nur. Seinen Darm können Sie nicht retten! Seit fünf Jahren hat er nichts Richtiges zu verarbeiten gehabt … er ist wie eine Wursthaut ohne Füllung, die zu lange in der Sonne lag.«
Dr. Böhler schüttelte stumm den Kopf und stieß die Nadel in die Vene. Vorsichtig zog er das Blut in die Glasröhre der Spritze, dann drückte er das Cardiazol in die Ader.
In der Tür stand plötzlich Dr. Kresin. Er hatte seine Tasche bei sich und stellte sich neben Dr. Böhler.
Sellnow lachte bitter. »Wo Aas ist, sammeln sich die Geier«, bemerkte er bissig.
»Keine Hoffnung?« fragte Dr. Kresin. Er überhörte die Bemerkung geflissentlich.
»Kaum.«
»Ein dritter Eingriff?«
Dr. Böhler erhob sich von dem Krankenbett und trat ans Fenster, das man mit einigen Lumpen verhangen hatte. Seine hagere Gestalt war nach vorn gebeugt.
»Ich habe viele Männer sterben sehen«, sagte er leise. »Es war mein Beruf geworden an der Front. Tausenden konnten wir helfen … aber noch mehr starben, weil die äußeren Umstände sie sterben ließen – nicht wir, die Ärzte! Hätte ich hier einen richtigen Operationsraum, die richtigen Medikamente …«, er sah auf den fiebernden Oberfähnrich, »ich bekäme ihn durch.«
Dr. Kresin öffnete seine Tasche und warf den Inhalt auf den Tisch. Es war ein kleines, gepflegtes, modernes chirurgisches Besteck. Auch einige Ampullen Evipan lagen dabei, die Dr. Böhler ungläubig betrachtete.
»Sie haben Evipan …?«
»Ja!« Dr. Kresin lehnte sich brummend an die Wand. »Sie sehen es ja.«
»Und das sagen Sie mir erst jetzt?« Dr. Böhler drehte sich mit einem Ruck herum. »Seit drei Jahren habe ich hier das Lazarett, seit drei Jahren werfen Sie mir Knüppel zwischen die Beine, seit drei Jahren operiere ich nicht, weil ich keine Betäubungsmittel und kein Besteck habe …!«
Dr. Kresins Gesicht war rot, er atmete schwer und schlug mit der Faust gegen die Holzwand. »Vergessen Sie nicht, daß Sie nur ein dreckiger Gefangener sind!« sagte er grob. »Man sollte euch alle einfach verrecken lassen …«
»Und warum tun Sie es nicht? Warum dann so etwas?« Dr. Böhler wies auf das Instrumentarium.
Dr. Kresin stieß die Tür auf und trat hinaus auf den Gang. Über die Schulter hinweg brummte er halblaut: »Weil ich Sie für einen verdammt tapferen Arzt halte …«
Seine Schritte verhallten zum Ausgang hin. Sellnow sah ihm
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